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Schönheit der toten Mädchen

Schönheit der toten Mädchen

Titel: Schönheit der toten Mädchen
Autoren: B Akunin
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Ein scheußlicher Anfang
    4. April, Kardienstag, Morgen
    Erast Fandorin, dem Beamten für Sonderaufträge beim Moskauer Generalgouverneur, Träger russischer und ausländischer Orden, drehte sich der Magen um.
    Sein schmales bläulich blasses Gesicht verzog sich leidend, eine Hand im weißen Glacéhandschuh mit Silberknöpfchen war gegen die Brust gepreßt, die andere fuhr krampfhaft durch die Luft – mit dieser vagen Geste wollte er seinen Assistenten beruhigen: Lappalie, geht gleich vorüber. Aber nach den anhaltenden qualvollen Konvulsionen zu urteilen, war es durchaus keine Lappalie.
    Fandorins Assistent, der Gouvernementsekretär Anissi Tulpow, ein dürrer, unansehnlicher junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, hatte seinen Chef nie zuvor in einem derart desolaten Zustand gesehen. Tulpow war übrigens selbst ein bißchen grün im Gesicht, aber dem Brechreiz hatte er widerstanden, worauf er jetzt insgeheim stolz war. Dieses unfeine Gefühl währte nur einen Moment und verdiente keine weitere Aufmerksamkeit, doch die unerwartete Dünnhäutigkeit des vergötterten, stets so kaltblütigen und jeder Gefühlsduselei abholden Chefs beunruhigte ihn ernstlich.
    »G-Gehen Sie …«, stieß der Kollegienrat Fandorin hervor und wischte sich mit dem Handschuh die lila Lippen. Sein leichtes Stottern, Folge einer lange zurückliegenden Hirnprellung, wurde durch die seelische Erschütterung deutlichverstärkt. »Gehen Sie h-hinein … Ein P-Protokoll … ein ausführliches … Photographische A-Aufnahmen aus allen Blickwinkeln. Und daß die Spuren nicht z-zertrampelt werden …«
    Er krümmte sich wieder, aber diesmal zitterte die ausgestreckte Hand nicht, und er wies mit dem Daumen unerbittlich auf die schiefe Tür des Holzschuppens, aus dem er vor wenigen Minuten kreideweiß herausgewankt war.
    Zurückzugehen in das graue Halbdunkel, wo es nach Blut und Eingeweiden roch, widerstrebte Anissi. Aber Dienst ist Dienst.
    Er atmete möglichst viel feuchte Aprilluft ein (ach, wenn ihm bloß nicht schlecht wurde), bekreuzigte sich und trottete gottergeben hinein.
    In dem Schuppen, der zur Aufbewahrung von Brennholz diente, jetzt aber, vor dem baldigen Ende des Frostes, fast leer war, hatten sich zahlreiche Leute versammelt: der Untersuchungsführer, Polizeiagenten, Gendarmen, der Quartalsaufseher, der Reviervorsteher, der Gerichtsarzt, der Photograph, Schutzleute und der Hausmeister Klimuk, der die ungeheuerliche Untat entdeckt hatte – am Morgen hatte er Holz aus dem Schuppen holen wollen und die Bescherung gesehen, er hatte gehörig geschrien und dann die Polizei geholt.
    Zwei Öllampen brannten, über die niedrige Decke schwankten Schatten. Es war still, nur in der Ecke schluchzte und schniefte ein blutjunger Polizist.
    »Na, was haben wir denn da?« schnurrte neugierig der Gerichtsmediziner Jegor Williamowitsch Sacharow und hob mit dem Gummihandschuh etwas Schwammiges Blaurotes vom Boden auf. »Das ist ja die Milz, die Gute. Ausgezeichnet. In die Tüte damit, in die Tüte. Noch was Inneres, die linkeNiere, nun haben wir alles beisammen bis auf ein paar Kleinigkeiten … Was haben Sie denn da unter dem Stiefel, Monsieur Tulpow? Gekröse?«
    Anissi blickte nach unten, wich entsetzt zur Seite und wäre fast gegen den ausgestreckten Körper der Toten geprallt – Stepanida Andrejitschkina, 39 Jahre alt, ledig. Diese Angaben, wie auch der Beruf der Toten, waren dem gelben Ausweis entnommen, der ordentlich auf der geöffneten Brust lag. Sonst war nichts ordentlich an der toten Frau.
    Ihr Gesicht, das wohl auch zu Lebzeiten nicht eben anziehend gewesen war, sah im Tod grauenhaft aus: blau angelaufen, voller verklumpter Puderflecke, die Augen aus den Höhlen getreten, der Mund in einem stummen Schrei erstarrt. Weiter unten hinzuschauen war noch schrecklicher: Der Täter hatte den armen Körper der Straßendirne längs und quer aufgeschnitten, hatte die gesamte Füllung herausgenommen und sie auf der Erde zu einem bizarren Muster ausgebreitet. Sacharow hatte bereits fast alles eingesammelt und in numerierte Tüten gesteckt. Übrig waren noch eine schwarze Blutlache und winzige Fetzen des zerschnittenen oder zerrissenen Kleides.
    Leonti Ishizyn, der Untersuchungsführer für wichtige Fälle beim Bezirksstaatsanwalt, hockte sich neben den Arzt und fragte sachlich: »Spuren von Geschlechtsverkehr?«
    »Das sage ich Ihnen später, mein Bester. Ich schreibe einen hübschen Bericht, in dem ich alles ausführlich darlege. Hier herrscht ja, wie
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