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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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und stieß einen stummen Seufzer aus.
    »Ich habe natürlich danach gefragt. Lord Ravensbrook hat mir anvertraut, daß der Junge bisweilen äußerst aufsässig war, man konnte ihn dann kaum bändigen, und sein Verhalten grenzte an offene Rebellion.«
    Man hörte ein leises Rascheln im Raum. Bisher interessierte sich niemand besonders für die Sache. Nicolson hob den Kopf.
    »Obwohl ich zu seiner Verteidigung sagen muß, daß es sehr schwer war, Lord Ravensbrook zu gefallen.« Er sprach, als hätte er Ravensbrooks Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt, und sein Blick wanderte auch nicht ein einziges Mal zu dem Platz hinüber, wo dieser steif und mit bleichem Gesicht saß. »Er war selbst von angenehmem Äußeren, charmant und begabt«, fuhr Nicolson fort. »Und er erwartete von allen Familienmitgliedern, daß sie den gleichen hohen Anforderungen genügten. Wenn sie es nicht taten, war er sehr hart in seiner Kritik.«
    »Aber Angus gehörte genaugenommen nicht zu seiner eigenen Familie«, stellte Rathbone fest. »Sie waren nur ganz entfernt verwandt. War er nicht das Kind eines Vetters?«
    Nicolsons Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an, in den sich tiefes Mitleid mischte. »Nein, Sir, er war der uneheliche Sohn seines Bruders Phineas Ravensbrook. Stonefield war der Name der jungen Frau, und auf keinen anderen Namen hatte er vor dem Gesetz Anspruch. Aber in seinen Adern floß das Blut der Ravensbrooks.«
    Rathbone hörte das erstaunte Murmeln im Saal.
    Der Leichenbeschauer beugte sich vor, als wolle er unterbrechen, änderte dann aber seine Meinung.
    »Warum hat Lord Ravensbrook ihn nicht adoptiert?« fragte Rathbone. »Vor allem, da seine Frau gestorben war und er selbst keine Kinder hatte.«
    »Lord Ravensbrook und sein Bruder haben sich nicht besonders nahegestanden, Sir.« Nicolson schüttelte den Kopf, und in seiner Stimme und den sanften Linien seines Gesichts machte sich große Traurigkeit breit. »Das Verhältnis der beiden war sehr gespannt, eine tiefsitzende Rivalität, die am Glück oder am Erfolg des anderen keine Freude finden konnte. Milo, der gegenwärtige Lord Ravensbrook, war der ältere. Er war klug, charmant und begabt, aber ich glaube, sein Ehrgeiz überstieg dennoch seine Fähigkeiten, so beträchtlich diese auch waren.«
    Die Erinnerung ließ sein Gesicht aufleuchten. »Phineas war ganz anders. Er besaß eine solche Vitalität, war so voller Leben und Phantasie. Jeder liebte ihn. Und er schien überhaupt keinen Ehrgeiz zu haben, außer das Leben zu genießen…«
    Der Leichenbeschauer beugte sich über den Tisch.
    »Mr. Rathbone! Hat das irgend etwas mit Caleb Stonefields Tod zu tun? Das scheinen doch sehr alte Geschichten zu sein, und noch dazu von überaus persönlicher Natur. Können Sie das dem Gericht gegenüber bestätigen?«
    »Ja, Sir, wir kommen jetzt zum eigentlichen Kern dieses Falls«, pflichtete Rathbone mit einem eifrigen Nicken bei. Etwas von dem Zorn und der Entschlossenheit, die er verspürte, mußte sich in seiner Stimme und in seiner Körperhaltung ausgedrückt haben. Alle Blicke ruhten auf ihm, und der Leichenbeschauer zögerte nur eine Sekunde, bevor er ihm gestattete fortzufahren.
    Rathbone nickte Nicolson zu.
    »Ich fürchte, Phineas ist mit vielen Dingen durchgekommen, die man ihm vielleicht besser nicht hätte durchgehen lassen sollen«, sagte Nicolson ruhig, aber seine Stimme drang bis in den letzten Winkel des totenstillen Saals. »Er konnte die Menschen anlächeln, und sie vergaßen ihren Zorn. Sie verziehen ihm viel mehr, als gut für ihn war oder für Milo. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, verstehen Sie? Als könne man alle Freuden und alle Schmerzen des Lebens gegeneinander abwägen - das kann nur Gott tun… am Ende, wenn alles bekannt ist.«
    Er seufzte. »Vielleicht ist das der Grund, warum er so hart mit dem armen Angus war, um zu verhindern, daß dieser in die Fußstapfen seines Vaters trat. Charme kann ein furchtbarer Fluch sein und alles ruinieren, was in einem Menschen an Gutem angelegt ist. Es geht nicht an, daß wir uns mit einem Lachen jeglicher Gerechtigkeit entziehen können. So werden wir nur leichtsinnig.«
    »War Lord Ravensbrook wirklich so streng, Mr. Nicolson?«
    »Meiner Meinung nach ja, Sir.«
    »In welcher Hinsicht?«
    Das Gesicht des Leichenbeschauers zuckte, aber er verzichtete darauf, die Befragung zu unterbrechen.
    Man hörte ein Reiben von Stoff auf Stoff und dann das Quietschen eines Stiefels. Lord Ravensbrook machte Anstalten, etwas
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