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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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der Kehle.«
    Er hielt inne. Im Raum herrschte absolute Stille. Alle Gesichter waren ihm zugewandt - in ihnen lag Entsetzen und Mitleid.
    Selina Herries sah aus wie ein Gespenst, schmal und traurig, und die Arroganz war wie weggeweht.
    »Als ich meine Sinne wieder beisammen hatte«, fuhr Ravensbrook schließlich fort, »und mir klarwurde, daß mir keine Gefahr mehr von ihm drohte, habe ich mich gebückt und versucht, seinen Puls zu finden. Er blutete sehr stark, und ich fürchtete, daß ihm nicht mehr zu helfen war. Ich durchquerte die Zelle, hämmerte an die Tür und rief nach den Wärtern. Einer von ihnen öffnete und ließ mich hinaus. Den Rest kennen Sie.«
    »Allerdings, Mylord«, pflichtete der Leichenbeschauer ihm bei. »Es besteht keine Notwendigkeit, Sie noch länger zu belästigen. Darf ich Ihnen und Ihrer Familie mein tiefstes Beileid zu Ihrem zweifachen Verlust aussprechen.«
    »Vielen Dank.« Ravensbrook wandte sich zum Gehen. Goode erhob sich.
    Der Leichenbeschauer machte eine Handbewegung, um Ravensbrook aufzuhalten, der Goode ansah, als stünde er einem Feind auf dem Schlachtfeld gegenüber.
    »Wenn es unbedingt sein muß«, räumte der Leichenbeschauer widerstrebend ein.
    »Vielen Dank, Sir.« Goode wandte sich an Ravensbrook und lächelte höflich, wobei er sämtliche Zähne entblößte.
    »Nach Ihrem eigenen Bericht, Mylord, und nach den Verletzungen, die Ihnen zugefügt wurden, zu urteilen…«, begann er. »Übrigens ich hoffe, Ihre Genesung macht Fortschritte?«
    »Vielen Dank«, sagte Ravensbrook steif.
    »Das freut mich.« Goode neigte den Kopf zur Seite. »Wie ich schon sagte, Ihrem eigenen Bericht zufolge, Mylord, haben Sie erst um Hilfe gerufen, als der Kampf mit Caleb schon eine Weile in Gang war. Warum haben Sie es nicht sofort getan? Es muß Ihnen doch klar gewesen sein, daß Sie in sehr großer Gefahr schwebten?«
    Ravensbrook starrte ihn mit fahlem Gesicht an.
    »Natürlich wußte ich das«, sagte er. Sein Kiefer verkrampfte sich; Rathbone konnte selbst von seinem Platz aus das hektische Spiel der Muskeln beobachten.
    »Und doch haben Sie nicht um Hilfe gerufen«, beharrte Goode. »Warum nicht?«
    Ravensbrook sah ihn voller Abscheu an.
    »Ich bezweifle, daß Sie es verstehen würden, Sir, sonst hätten Sie diese Frage nicht gestellt. Trotz all seiner Verfehlungen und seiner Undankbarkeit, seiner Treulosigkeit war Caleb Stone wie ein Sohn für mich. Ich hoffte, ich könnte die Sache regeln, ohne daß die Behörden jemals davon erfahren würden. Es war ein überaus tragischer Zufall, daß die Sache ein solches Ende genommen hat. Ich hätte meine eigenen Verletzungen verbergen können, bis ich das Gerichtsgebäude sicher verlassen hatte. Er war ja bis zum Ende unverletzt geblieben.«
    »Ich verstehe«, erwiderte Goode ausdruckslos.
    Dann machte er sich daran, alle möglichen weiteren Fragen zu stellen, und suchte spitzfindig Erklärungen für alle möglichen Dinge. Rathbone folgte seinem Beispiel, bis er jegliche Sympathie seitens der Zuschauer verloren hatte und auch die Geduld des Leichenbeschauers nur noch an einem seidenen Faden hing. Um Viertel nach vier am Nachmittag mußte er sich geschlagen geben, und der Leichenbeschauer rief ihn selbst in den Zeugenstand. Er brauchte nur ganze zwölf Minuten, um Rathbone seine Aussage machen zu lassen.
    Goode zermarterte sich das Gehirn, aber ihm fiel nichts mehr ein, was er hätte vorbringen können, um die Befragung hinauszuzögern.
    Neunundzwanzig Minuten vor fünf wurde Monk aufgerufen und seine Abwesenheit festgestellt. Rathbone bestand darauf, daß man ihn ausfindig machen müsse. Der Leichenbeschauer erhob den Einwand, daß Monk, da Rathbone sich während der ganzen in Frage stehenden Zeit in dessen Gesellschaft befunden habe, kaum etwas von Nutzen hinzufügen könne.
    Goode erhob sich und wurde ebenfalls abgewiesen.
    Der Leichenbeschauer vertagte die Sitzung auf den nächsten Tag.
    Rathbone und Goode verließen gemeinsam und in tiefer Sorge das Gerichtsgebäude. Sie hatten immer noch keine Nachricht von Monk.
    Seine erste Zeugin an diesem Morgen war Hester Latterly.
    »Miss Latterly.« Der Leichenbeschauer lächelte sie gütig an.
    »Es besteht kein Grund, nervös zu sein, meine Liebe. Beantworten Sie die Fragen einfach nach Ihrem besten Wissen und Gewissen. Wenn Sie die Antwort nicht kennen, dann sagen Sie uns das.«
    »Ja, Sir.« Sie nickte und erwiderte sein Lächeln mit denkbar unschuldigstem Gesichtsausdruck.
    »Sie verließen
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