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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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Angus als auch Caleb gesehen!« Er schrie jetzt. »Sag ihnen, daß das absurd ist!«
    »Ich habe sie gesehen«, sagte Genevieve langsam. »Aber niemals zusammen. Ich habe die beiden nie gleichzeitig gesehen. Aber… es kann nicht sein! Sie waren so völlig verschieden. Nein.« Sie sah Abigail Ratchett an. »Nein, Sie müssen sich irren. Es ist mehr als einundvierzig Jahr her. Ihr Gedächtnis spielt Ihnen einen Streich. Wie viele Kinder haben Sie auf die Welt geholt? Hunderte?«
    »Es war ein Kind!« sagte Abigail Ratchett scharf. »Ich bin nicht betrunken, und ich bin nicht wahnsinnig, egal, was irgend jemand behauptet.«
    Genevieve wandte sich an Monk, und in ihrer Miene spiegelte sich Verzweiflung wider. Sie mußte die Stimme erheben, um sich Gehör zu verschaffen. »Sie sagten, jemand habe sie am Tag, an dem Angus starb, zusammen gesehen! Finden Sie diesen Mann, und bringen Sie ihn her. Das wird Aufklärung bringen!«
    Der Leichenbeschauer griff abermals zu seinem Hammer, verlangte Ruhe und wandte sich dann wieder an Monk. »Nun?« fragte er heftig. »Haben Sie einen solchen Zeugen gefunden? Wenn ja, was soll dann all dieser Unfug! Ich habe den Eindruck, daß Sie absolut verantwortungslos handeln, Sir!«
    »Ich bin dorthin zurückgekehrt«, erwiderte Monk, und seine Stimme war leise und scharf. »Ich habe den Zeugen gefunden und ihn dazu gebracht, sich genau dort hinzustellen, wo er Angus und Caleb gesehen hatte. Ich selbst habe mich dort hingestellt, wo sich seiner Aussage nach die beiden befanden.
    Plötzlich war atemlose Stille in den Saal eingekehrt.
    »Ich stand vor einem Spiegel, Sir«, sagte Monk mit einem strahlenden Lächeln. »Ich habe mit meinem eigenen Spiegelbild gekämpft, und der Mann, der mich dabei beobachtete, sah sich zum zweitenmal einem Trugbild gegenüber.«
    »Das beweist überhaupt nichts!« sagte Ravensbrook mit belegter Stimme. »Sie haben gesagt, Caleb habe zugegeben, Angus ermordet zu haben. Wie kann ein Mann sich selbst ermorden?«
    »Er sagte, er habe Angus zerstört«, korrigierte Monk ihn.
    »Und daß ich niemals eine Leiche finden würde. Das war der Witz, das war der Grund, warum er lachte. Caleb wußte von Angus und verachtete ihn. Ich glaube, Angus wußte nichts von Caleb. Er konnte ein solches Wissen nicht ertragen. Für ihn war Caleb ein völlig anderer Mensch, eine düstere Erscheinung jenseits seiner Existenz, vor der er sich von ganzem Herzen fürchtete.«
    »Unsinn!« entgegnete Ravensbrook mit erhobener Stimme.
    »Das ist eine wilde und absolut lächerliche Behauptung, die Sie niemals beweisen können. Caleb war wahnsinnig, das steht fest, und er ermordete seinen Bruder. Als er dann begriff, daß man ihn verurteilen und hängen würde, hat er in einer letzten besessenen Aufwallung von Haß auch mich angegriffen, weil ich, Gott vergebe mir, Angus immer mehr liebte als ihn. Wenn ich mich einer Sünde schuldig gemacht habe, dann ist es die und nur die!«
    Die Leute im Saal bewegten sich unruhig auf ihren Plätzen.
    »Es gibt einen Beweis.« Monk hob die Stimme und sah den Leichenbeschauer unverwandt an. »Die Leiche Caleb Stones befindet sich im Leichenschauhaus.« Er drehte sich mit einer heftigen Bewegung zu Selina herum. »Madame, kennen Sie Calebs Körper gut genug, um ihn von Angus' unterscheiden zu können?«
    »Ja, natürlich tue ich das«, sagte sie, ohne zu erröten.
    Er sah Genevieve an. »Und Sie, Mrs. Stonefield, könnten Sie den Körper Ihres Mannes von dem Calebs unterscheiden?«
    »Ja.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
    »Dann lassen Sie uns dieser Farce ein Ende machen«, sagte der Leichenbeschauer entschlossen. »Wir werden diese beiden Damen ins Leichenschauhaus bringen.« Daraufhin erhob er sich mit starrer Miene und unbewegtem Blick. Er schenkte dem Aufruhr im Saal nicht die geringste Beachtung.
    Der Aufseher des Leichenschauhauses zog das Laken zurück und enthüllte den nackten Körper bis zu den Lenden. Der Raum war kalt und roch nach Tod. Das Kerzenlicht schimmerte gelb und tauchte die Ecken in Schatten.
    Selina Herries stützte sich auf Hesters Arm; ihr Gesicht war ruhig, beinahe schön, und alle Forschheit und aller Zorn schienen daraus verschwunden zu sein. Sie sah in das Gesicht mit der glatten Stirn, dem fein geschnittenen Mund, den geschlossenen Augen und blickte dann hinunter auf die breite Brust, die vernarbt und von marmornem Weiß war. Das Muster der alten Verletzungen war unverkennbar.
    »Das ist Caleb«, sagte sie leise. Sie
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