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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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Oktober 1829 von ihren beiden Söhnen entbunden wurde, deren Vater ein gewisser Phineas Ravensbrook war?«
    Rathbone blickte zu Ravensbrook hinüber, der jetzt bleich war wie ein Totenschädel.
    »Ich habe meinen Dienst versehen, ja, Sir«, erwiderte Miss Ratchett. »Aber es war nur eine ganz normale Geburt wie jede andere, keine Zwillinge, Sir, nur das eine Kind. Ein Junge… prächtiger kleiner Kerl. Gesundes Kind. Hat ihn Angus genannt, die Mutter.«
    Man hätte im Saal eine Stecknadel fallen hören können.
    »Was?« fragte Rathbone.
    Der Leichenbeschauer beugte sich vor und sah sie streng an.
    »Madame, sind Sie sich dessen bewußt, was Sie da sagen? Es gibt Leute hier in diesem Gerichtssaal, die sowohl Angus als auch Caleb kannten!«
    »Es gab nur einen Säugling, Sir«, wiederholte Miss Ratchett.
    »Ich war dabei. Miss Alice hatte ein Kind. Ich war die ganze Zeit über bei ihr, während sie ihn gestillt hat. Habe ihn gekannt, bis seine arme Mutter starb. Im Jahr drauf ist dann auch Phineas Ravensbrook gestorben, irgendwo im Ausland. Und danach hat dann sein Onkel ihn zu sich genommen, den armen kleinen Kerl. War erst fünf Jahre alt und hat furchtbar gelitten. Der Vater hatte keine Zeit für ihn gehabt, nie. Hat ihn auch nie anerkannt, nein, und hat seine Mutter auch nicht geliebt.« Ihr Gesicht ließ keinen Zweifel an ihren Gefühlen für Phineas Ravensbrook aufkommen.
    »Was Sie da sagen, ergibt keinen Sinn, Madame!« rief der Leichenbeschauer verzweifelt. »Wenn es nur ein Kind gab, woher kam dann Caleb? Wer war er? Und wer hat Angus getötet?«
    »Darüber weiß ich nichts«, sagte Miss Ratchett gelassen. »Ich weiß nur, daß es bloß ein Kind gegeben hat. Und ich weiß, daß Kinder eine ungeheure Phantasie haben! Ich habe mich mal um ein kleines Mädchen gekümmert, das angeblich eine Freundin hatte, reinste Phantasie, und wenn sie irgendwas angestellt hatte, sagte sie, es wäre Mary gewesen, nicht sie. Sie war lieb, Mary war böse.«
    »Völlig normal, daß ein Kind zu so einer Entschuldigung greift«, sagte der Leichenbeschauer. »Ich habe selbst Kinder, Madame. Ich habe viele solcher Geschichten zu hören bekommen.«
    Reverend Nicolson erhob sich.
    »Ich bitte um Verzeihung, Sir.« Er sprach den Leichenbeschauer mit großem Respekt an, ließ sich aber nicht abweisen. »Ist es nicht möglich, daß der Junge in seinem Unglück, getrieben von dem Gefühl der Zurückweisung, der Verpflichtung und Einsamkeit, ein zweites Selbst schuf, dem er die Verantwortung für sein Versagen zuschieben konnte, ein zweites Selbst, das außerdem frei war, seinen Onkel so zu hassen, wie er es gern getan hätte, wie er es in seinem Herzen auch wirklich tat?«
    Seine Stimme übertönte den wachsenden Lärm im Gerichtssaal, das Stöhnen und die Laute des Entsetzens, des Mitleids, des Zorns oder der Ungläubigkeit.
    »Könnte es nicht als eine Flucht ins Reich der Phantasie begonnen haben - die Flucht eines unglücklichen verletzten und gedemütigten Kindes?« fragte er. »Und sich dann in echten Wahnsinn verwandelt haben, indem er zu zwei ganz verschiedenen Menschen wurde - zu einem, der alles tat, um zu gefallen, und die entsprechenden Belobigungen erntete, und zu einem anderen, der frei war, ohne Vorbehalte all den Zorn und Haß für seine Zurückweisung auszuleben, weil er der Sohn eines Vaters war, der ihn nicht anerkennen wollte, und einen Onkel hatte, für den er niemals gut genug war, ein Spiegelbild des Bruders, den er beneidete und an dem er sich nicht mehr rächen konnte, außer an dessen Kind?«
    Der Leichenbeschauer schlug mit dem Hammer auf den Tisch. »Ruhe!« befahl er.
    »Das ist ein monströses Bild, das Sie da zeichnen, Sir. Möge Gott es Ihnen vergeben. Es würde mich nicht überraschen, wenn die Familie Ravensbrook das nicht kann.« Er sah Milo Ravensbrook an, der wie erstarrt dasaß; sein Gesicht war - von den scharlachroten Flecken auf seinen Wangen abgesehen - schneeweiß.
    Aber Enid Ravensbrooks Gesichtsausdruck, der Zorn und das Mitleid darin, war es, der den Leichenbeschauer zurückschrecken ließ und Rathbone klarmachte, daß Nicolson nicht so weit von der Wahrheit entfernt war.
    »Absoluter Wahnsinn!« stieß Ravensbrook zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Um Gottes willen! Jeder hier weiß, daß es zwei Brüder gab! Diese Frau ist entweder abgrundtief schlecht, oder sie hat den Verstand verloren. Der Alkohol hat ihr Gedächtnis getrübt.« Er fuhr herum.
    »Genevieve! Du hast sowohl
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