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Die schoene Helena

Titel: Die schoene Helena
Autoren: Jacqueline Navin
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1. Kapitel
    Northumberland, England 1852
    Adam Mannion zügelte sein Pferd, sobald es um eine Kurve der festgestampften Sandstraße gebogen war. Verwundert musterte er das weitläufige Gebäude.
    Das sollte Rathford Manor sein?
    Der Wallach, eben erst erworben und eher lebhaft als fügsam, begann unruhig zu tänzeln. Spürte auch er die unheimliche Aura des Hauses? „Brrr, alter Junge!“, murmelte Adam, umfasste die Zügel etwas fester und brachte das Pferd unter Kontrolle. Nervös spitzte das Tier die Ohren.
    Als besonnener, praktisch veranlagter Mann hatte Adam Mannion in seinen zweiunddreißig Jahren nichts gesehen, was ihn veranlassen mochte, an irgendetwas außerhalb der greifbaren gegenständlichen Welt zu glauben. Nur beim Kartenspiel vertraute er hin und wieder auf gewisse Ahnungen. Doch in diesem Fall teilte er das sonderbare Unbehagen seines Pferdes.
    Das Haus wirkte ... tot, zumindest verlassen. Im Garten bückte sich keine Menschenseele, um Gemüse oder Kräuter zu ernten. Niemand kam aus dem Gebäude oder den Stallungen, um ihn zu begrüßen. Ungehindert wucherten die Büsche und Rankgewächse, die der majestätischen Fassade vielleicht einmal heitere Anmut verliehen hatten. Aus den Steinmauern quollen Flechten und gediehen prächtig in der Atmosphäre der Vernachlässigung, die wie ein Leichentuch über dem Anwesen lag. Trotz des milden Wetters waren die meisten Fensterläden geschlossen. Also wurden die Räume dahinter nicht benutzt.
    „Das Dornröschen von Northumberland“, flüsterte Adam belustigt. Nun, er war wohl kaum der Prinz, der sich durch das Dornengestrüpp kämpfen würde, um die Prinzessin zu wecken.
    Nur das Geld hatte ihn in diesen gottverlassenen Winkel von England gelockt, wo der Nordwind über unbelebtes Moorgebiet fegte. Viel lieber würde er den Sommer mit seinen Gefährten in Cornwall verbringen - oder in Südfrankreich oder Italien, wie einige seiner wohlhabenden Freunde. Bedauerlicherweise war er nicht reich. Und deshalb war er hier. Wegen des Geldes. Weil er heiraten wollte.
    Keine Geringere als das Dornröschen von Northumberland.
    Das Pferd wieherte, was etwas spöttisch klang, als könnte es die Gedanken seines Herrn erraten. Seufzend nickte Adam. „Ganz meine Meinung. Welch ein Unsinn!“ Er schüttelte den Kopf, dann drückte er seine Fersen in die Flanken des Wallachs. „Jedenfalls müssen wir dieses gespenstische Bauwerk erforschen.“
    Widerstrebend ritt er durch das hohe Unkraut, das den Rasen vor dem Haus bedeckte, und gewann den Eindruck, um Mitternacht einen nebelverhangenen Friedhof zu durchqueren. Eine Gänsehaut überzog seine Arme. Beinahe erwartete er einem Gespenst zu begegnen.
    Nachdem er sich aus dem Sattel geschwungen hatte, wischte er den Staub von seinen Breeches und rückte die Krawatte zurecht. Dann lachte er über seine uncharakteristische Pedanterie. Offenbar war er genauso nervös wie sein Pferd.
    Er ging zur Tür, hob einen mit Grünspan überzogenen Klopfer, der aus dem Maul eines grotesken eisernen Fabeltiers ragte, und ließ ihn gegen das Holz fallen. Wie leiser Donner hallte das Geräusch durch das Haus.
    Eine Zeit lang geschah gar nichts. Er klopfte noch einmal und wartete. Die Stirn gerunzelt, starrte er den hässlichen Wachtposten an, der seine Metallzähne fletschte. Hatte man ihn falsch informiert? Oder war er dem schwarzen Humor seiner „Busenfreunde“ zum Opfer gefallen? Diesen liederlichen Schurken würde er einen so üblen Scherz durchaus Zutrauen. Womöglich saßen sie jetzt im White’s Club und lachten sich krank über Adam, der in diese Einöde geritten war, um einem Märchen nachzujagen.
    Dornröschen? Er hatte fantastische Geschichten über ihre Schönheit gehört, ihren Charme, ihre unvergleichlichen Liebreiz und - am aller wichtigsten - ihr Vermögen, das er so dringend brauchte.
    Geld, Schönheit, eine Landpomeranze, die ein zurückgezogenes Leben führte und seine Amüsements in der Stadt nicht behindern würde. Zweifellos eine perfekte Ehefrau ...
    Welch ein alberner Gedanke! Ich bin doch kein Grünschnabel mehr, überlegte er ärgerlich. Auf dieser Welt war nichts perfekt. Das müsste er mittlerweile wissen.
    Allmählich gestand er sich seine Niederlage ein. Man hatte ihn hereingelegt. Wenn er jetzt zurückritt, würde er bei Einbruch der Dunkelheit den Gasthof im nahen Dorf Strathmere erreichen.
    Aber als er die Marmorstufen hinabstieg, schwang die Tür hinter ihm auf. Erstaunt drehte er sich um und blinzelte.
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