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Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain
Autoren: Anne Perry
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und zutreffend, aber es gibt uns keinen Aufschluß darüber, ob sein Tod ein Unfall war oder nicht.«
    »Da wir keine Beweise für einen Selbstmord haben, Mr. Rathbone«, sagte der Leichenbeschauer geduldig, »werden wir wohl davon ausgehen müssen, daß er Lord Ravensbrook in einem Anfall derselben Eifersucht und desselben Hasses angegriffen hat, die er anscheinend auch für seinen Bruder empfand, nur daß seine Waffe sich in diesem Fall gegen ihn selbst richtete und er zum Opfer wurde.«
    Rathbone holte tief Luft und warf seinen guten Ruf in die Waagschale. »Oder es gäbe noch eine dritte Möglichkeit, Sir - daß es nicht Caleb war, der Lord Ravensbrook angegriffen hat, sondern daß der Ausgang des Kampfes genauso ausfiel, wie er von Anfang an geplant war.«
    Absolute Stille trat ein. Es war so, als hätte alles Leben im Saal für einen Augenblick den Atem angehalten. Enid war aschfahl, Genevieve wie gelähmt.
    Nach einer Weile ergriff der Leichenbeschauer wieder das Wort.
    »Mr. Rathbone, wollen Sie damit andeuten, daß Lord Ravensbrook Caleb Stone mit voller Absicht getötet hat?«
    »Ich möchte damit andeuten, daß das eine Möglichkeit ist, Sir.«
    Goode schloß die Augen und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück; die Qual, die er litt, stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
    Zwei rote Flecken tauchten auf Milo Ravensbrooks Wangen auf, aber er bewegte sich nicht und sagte auch nichts.
    Selina Herries biß sich in die Fingerknöchel und starrte Rathbone an.
    »In Gottes Namen, Mann, aus welchem vernünftigen Grund sollte er das getan haben?« fragte der Leichenbeschauer.
    Im hinteren Teil des Gerichtssaals öffnete sich eine Tür, und Monk trat ein, durchnäßt von Regen, mit zerzaustem Haar und erschöpft von einer schlaflosen Nacht, aber in Begleitung eines älteren Herrn und einer stämmigen, schwarzgekleideten Frau.
    Rathbone fühlte sich ganz schwach vor Erleichterung. Als er dem Leichenbeschauer antwortete, zitterte seine Stimme.
    »Ich werde einige Zeugen aufrufen, um Aufschluß über diese Frage zu geben, Sir. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mit Reverend Horatio Nicolson aus Chilverley beginnen.«
    Der Leichenbeschauer zögerte. Er sah sich in dem Raum um, sah die Gesichter mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen, die erwartungsvolle Neugier, den einzigen Journalisten, der mit einem Bleistift in der Hand und eifriger Miene den Fall nach wie vor verfolgte. Er konnte das Gesuch nicht ablehnen.
    »Ich werde Sie sofort unterbrechen, wenn Sie auch nur einen Augenblick lang vom Thema abschweifen oder irgend jemand zu einer unbegründeten Anschuldigung ausholt«, warnte er ihn.
    »Seien Sie vorsichtig, Mr. Rathbone, wirklich sehr vorsichtig! Ich werde nicht zulassen, daß der gute Name eines Mannes grundlos in den Schmutz gezogen wird.«
    Rathbone verneigte sich, um sein Einverständnis zu bekunden, und rief Horatio Nicolson in den Zeugenstand.
    Langsam und mit tiefem Bedauern und offensichtlicher Verlegenheit betrat Reverend Nicolson den Zeugenstand und legte den Eid ab.
    Rathbone begann seine Befragung, indem er zweifelsfrei feststellte, wer der Mann war, so daß das Gericht dessen Bedeutung verstehen konnte.
    »Also, Sie kannten Lord Ravensbrook und seine Familie zu der Zeit, als Angus Stonefield nach Chilverley kam, ziemlich gut?« fragte er.
    »Ja Sir«, antwortete Nicolson mit ernster Miene.
    »Haben Sie Angus kennengelernt?«
    »Ja. Ich habe ihn in Latein unterwiesen; ich glaube, als wir anfingen, war er etwa acht Jahre alt. Er war ein hervorragender Schüler, intelligent, willig und mit einer raschen Auffassungsgabe gesegnet. Ein sehr angenehmer Junge, so rücksichtsvoll und wohlerzogen.« Bei der Erinnerung mußte er unwillkürlich lächeln. »Meine Frau mochte ihn besonders gern. Sie hat sich immer große Sorgen um ihn gemacht. Er war ziemlich oft krank, wissen Sie, und manchmal sehr in sich gekehrt.« Seine Stimme wurde ein wenig leiser. »Er war immer von einer gewissen Traurigkeit erfüllt, vor allem, als er noch sehr jung war. Was kein Wunder ist, nehme ich an, nachdem er in so zartem Alter beide Eltern verloren hatte.«
    »War er auch später ein so hervorragender Schüler, Mr. Nicolson?« fragte Rathbone.
    Nicolsons Gesicht verriet ehrlichen Kummer.
    »Nein. Ich fürchte, er wurde später sehr unstet. Manchmal war er hervorragend, ganz der alte. Und dann gab es Zeiten, da habe ich ihn wochenlang kaum zu Gesicht bekommen.«
    »Wissen Sie, welchen Grund das hatte?«
    Nicolson holte tief Luft
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