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TS 04: Das endlose Schweigen

TS 04: Das endlose Schweigen

Titel: TS 04: Das endlose Schweigen
Autoren: Wilson Tucker
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1. Kapitel
     
    Tief im Schatten hockte Gary in der Nahe des Strandes und wartete auf das trockene Krachen des Karabinerschusses. Die alte Frau mußte verrückt gewesen sein, wenn sie glaubte, heimlich über die Brücke gelangen zu können – verrückt oder vollkommen ausgehungert. Wie konnte die Dunkelheit der Nacht sie verbergen, wenn die Soldaten auf der andern Seite der Brücke mit Infrarotlampen und Zielfernrohren auf den Gewehren ausgerüstet waren?
    Auf einer Länge von knapp 700 km war dies hier die einzige noch existierende Brücke über den Mississippi, schon darum würde man auf der andern Seite besonders starke Truppenkontingente der amerikanischen Armee zusammengezogen haben. Die Chancen der alten Frau, auf die andere Seite des Stromes nach Iowa zu gelangen, waren wesentlich geringer, als die eines Schneeballs im Zyklotron.
    Kein Mensch aus dem verseuchten Gebiet östlich des großen Stromes konnte diesen überqueren und länger als ein paar Sekunden leben. Er konnte nur versuchen, das Leben diesseits des Mississippi so lange zu erhalten wie möglich, oder eben auf den heranschleichenden Tod zu warten.
    Irgendwo im Dunkel krachte ein Schuß.
    Gary blieb still liegen. Er wußte genau, was jetzt geschehen würde. Ein Soldat in weißem Schutzanzug würde auf die Brücke hinausgehen und den Körper der Gefallenen mit dem Fuß anstoßen. War noch Leben in ihm, dann würde ein zweiter Schuß fallen. Dann würde er die Leiche in den Fluß werfen.
    Gary hörte das Aufklatschen nur undeutlich, denn der Wind kam aus der entgegengesetzten Richtung. Aber ohne Zweifel würde die hungrige, alte Frau bereits den Strom hinabtreiben.
    Langsam kroch er das Ufer hinauf und suchte hinter dem sanften Wall die kleine Bodensenke, in der er gelegen hatte, als die Frau an ihm vorbeigekommen war. Aus purer Neugier war er ihr gefolgt, obwohl er genau wußte, was passieren würde. Hätte sie Lebensmittel bei sich getragen, hätte er sie ihr abgenommen. Aber sie trug keine Tasche, ihre Hände waren leer gewesen. Ruhig und still war sie auf die Brücke zugegangen, die immer den letzten Ausweg bot. Weiter südlich, wo alle Brücken zerstört waren, dienten Boote dem gleichen Zweck. Die Truppen waren ständig auf der Wacht.
    Gary wußte, daß es deren genügend gab, um das ganze westliche Ufer zu bewachen. Von der Deltamündung angefangen bis zum Winnibigoshishsee in Minnesota. Ab hier bildete die berittene Polizei eine fast undurchdringliche Mauer.
    Er hätte selbst auch bei diesen Soldaten sein können, bei ihnen auf der Westseite und somit in Sicherheit, wäre er nicht vor einem Jahr vollkommen betrunken in einem Hotel aufgewacht.
    Corporal Russell Gary, Angehöriger der V. Armee, war im südlichen Teil von Illinois dazu kommandiert, Rekruten anzuwerben. Den Zweiten Weltkrieg hatte er mitgemacht, Invasion in der Normandie, Verwundung in Salerno, Stationierung am Rhein. Reich war er damals geworden, denn der Verkauf von militäreigenem Benzin brachte viel Geld.
    Nach dem Krieg beschloß er, bei der Armee zu bleiben. Ein richtiges Zuhause besaß er nicht. Und so kam es, daß er seinen dreißigsten Geburtstag zusammen mit seinem zehnjährigen Dienstjubiläum feiern konnte.
    Als er dann aufwachte, befand er sich auf der falschen Seite des Mississippi, auf der bombardierten und verseuchten Seite.
    Die Armee schuldete ihm nun für ein Jahr den Sold …

 
2. Kapitel
     
    Corporal Gary schlug mühsam die Augen auf. Die angeschmutzte Tapete hing über seinem Bett und drohte, jeden Augenblick herabzufallen. Seine zusammengeknüllten Hosen lagen auf dem Boden.
    „Hol mich doch der Teufel!“ krächzte er verschlafen und versuchte, sich im Bett aufzurichten. Instinktiv griff er dabei unter das Kopfkissen und zog eine Whiskyflasche hervor. Da sie keinen Inhalt mehr aufwies, schleuderte er sie in eine Ecke des Zimmers, das Kopfkissen hinterher.
    Die auf der Erde liegende Hose fesselte seine Aufmerksamkeit. Er zog sie zu sich ins Bett, kramte die Brieftasche daraus hervor und begann, sie zu untersuchen. Sie war genauso leer wie die Flasche, und mit einem häßlichen Schimpfwort schleuderte er sie ebenfalls in die gleiche Ecke.
    Er schwang die Füße aus dem Bett und stellte sie auf den Boden. Dabei berührten sie etwas Kaltes – eine zweite, allerdings ebenfalls geleerte Flasche. Unter dem Schrank sah der abgebrochene Hals einer dritten hervor.
    „Herr des Himmels!“ sagte Gary zu dem schmutzigen Teppich. „Muß das eine Besäufnis
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