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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Autoren: Sergej Minajew
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drehe ich mich um und fahre mit der einzigen funktionierenden Rolltreppe nach oben. Ich passiere einen Übergang, lande wieder auf einer Rolltreppe, fahre abwärts und bin wieder in der Station, wo ich wieder die Frauen sehe. Mehrere Male nehme ich diesen Weg über die Rolltreppen und komme immer wieder auf demselben Bahnsteig an. Meine Frauen stehen noch genauso da wie vorher, und in ihren Gesichtern sehe ich die Erwartung von etwas Großem. Jetzt erscheinen auf der Rolltreppe zwei Polizisten und starren mich an. In diesem Moment habe ich das intensive Gefühl, mich in einem geschlossenen Kreislauf zu bewegen, und als hätte ich ein sehr dummes und gleichzeitig sehr furchtbares Verbrechen begangen. Im Traum begreife ich, dass ich
das alles nur träume, aber es erschreckt mich, dass man so einen Blödsinn träumen kann. Unterdessen kommen die Polizisten näher, einer von ihnen streckt mir ein Eis am Stiel entgegen. Ich verstehe, dass ich es auf keinen Fall annehmen darf, ich verstehe aber auch, dass ich nicht weglaufen kann. Sie werden mir dieses Eis auf jeden Fall in die Tasche schieben. Ein Gefühl von totaler Ausweglosigkeit ergreift mich, und ich kapiere nicht so ganz, wie mir die Tatsache entgehen konnte, dass Eis auf einmal etwas Verbotenes ist. Es macht mir Angst, dass ich überhaupt nichts mehr checke und dass ich keine Ahnung habe, was ich jetzt tun und was ich diesen Bullen sagen soll. Das Gefühl wird stärker und stärker, und als es seinen Höhepunkt erreicht, wache ich auf. Im Gang bietet eine Verkäuferin Waffeleis an. Ich warte ab, bis sie den Waggon verlassen hat, dann schließe ich wieder die Augen. Diesmal schlafe ich vollkommen traumlos. In völliger Dunkelheit.
    Als ich aufwache, steht der Zug. Seltsamerweise habe ich das Gefühl, dass er von dem Moment an, in dem ich abgetaucht bin, sich nicht mehr von der Stelle bewegt hat. Ich sehe auf die Uhr meines Nachbarn – es ist neun Uhr abends. Ich habe neun Stunden geschlafen. Ich stehe auf und steige aus dem Zug. Vor meinen Augen erscheint ein typischer kleiner Landbahnhof. Ein gedrungenes rechteckiges Bahnhofsgebäude in einem Meer von Grün. Ich versuche den Namen der Station herauszufinden, aber ich kann nirgendwo ein Schild entdecken. Doch was spielt das schon für eine Rolle?
    Der Zug, der mich hierher gebracht hat, ist inzwischen abgefahren. Ich trete vor das Bahnhofsgebäude und sehe mich
um. Gleich gegenüber befindet sich eine Bushaltestelle mit einigen späten Fahrgästen, ein Stück weiter sind mehrere Kioske und ein Pavillon mit einem Lebensmittelgeschäft und einem Café. Über dem Dach des Pavillons steht eine Wolke aus Grilldunst. Ein Junge und ein Mädchen sitzen auf Plastikstühlen, essen Schaschlik und trinken Wein dazu. Während ich noch überlege, ob ich Hunger habe, dreht der Junge seinen Kopf in meine Richtung. Sein Gesicht ist sehr rot, entweder aus Leidenschaft zum Alkohol oder aus Leidenschaft zu dem Mädchen. Jedenfalls wird mir klar, dass dies nicht mein Ort ist.
    Auf der anderen Seite des Bahnsteigs erstreckt sich ein Feldweg, an dessen Rand vereinzelte spärliche Büsche stehen. Kurz entschlossen überquere ich die Gleise und folge dem Weg. Er führt immer an der Bahnlinie entlang, mal drückt er sich an die Gleise, mal entfernt er sich in sanften Bögen. Dann und wann komme ich an einem einsamen Haus vorbei und erreiche schließlich einen schmalen Waldstreifen. Auf der Böschung am Bahndamm wachsen kleine gelbe Blumen, die aussehen wie die, die ich einmal als kleiner Junge mit meiner Mutter gepflückt habe. Ich gehe an den Gleisen entlang und pflücke Blumen. Nach einiger Zeit hat sich ein ansehnlicher Strauß angesammelt. Jetzt erinnere ich mich. Als Kinder glaubten wir, wer unter diesen Blumen eine mit sieben Blüten findet, habe einen Wunsch frei. Während ich noch darüber nachdenke, sehe ich in dem Waldstück eine Lichtung, auf der drei gefällte Bäume liegen. Mit meinem gelben Blumenstrauß in der Hand biege ich von dem Weg ab und steuere auf die Lichtung zu, wobei ich plötzlich das Gefühl habe, einen vollkommen albernen
Anblick zu bieten. Auf der Lichtung angekommen, setze ich mich auf einen der Baumstämme, zünde mir eine Zigarette an und inspiziere meine Umgebung. Das Plätzchen weist alle wesentlichen Merkmale jener hingebungsvollen Liebe des russischen Menschen zu seiner Heimat auf – leere Bierflaschen, Zigarettenstummel, ein paar Konservendosen, dazu die dunklen Stellen alter Lagerfeuer, eben alles
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