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Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless

Titel: Seelenkalt - Minajew, S: Seelenkalt - Duchless
Autoren: Sergej Minajew
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das, was wir an der unberührten Natur so schätzen. Dieses Stillleben krönt eine tote Ratte, die unter einem Busch in meiner Nähe liegt. Sie liegt in einer sonderbaren, unnatürlichen Haltung da, ähnlich einem Tiger, der sich zum Sprung duckt. Ihr Maul ist aufgerissen, die Augen halb geschlossen. Ich vermute, dass sie noch nicht lange so liegen kann, denn ihr Körper ist vollkommen unversehrt, weder streunende Hunde noch hungrige Waldtiere haben daran genagt. Aber vielleicht verschmähen sie ja so ein niederes Aas?
    Ich frage mich, warum diese Ratte wohl ihren natürlichen Lebensraum in der nahrhaften Nachbarschaft menschlicher Behausungen verlassen hat. In einer Tierserie im Fernsehen habe ich mal eine Sendung über Ratten gesehen. Darin wurde auch beschrieben, dass sie bisweilen in unmittelbarer Nähe ihres Lebensraumes gelegene Walddickichte aufsuchen, vielleicht um zu gebären, vielleicht um zu sterben. Genau weiß ich es leider nicht mehr. Also werde ich wohl nie erfahren, was diese Ratte hierher verschlagen hat.
    Ratten sind sehr aggressive Wesen, getrieben von permanenter, skrupelloser Fressgier. Schon damals dachte ich, dass wir, die jungen und aggressiven Vertreter des Moskauer Mikrokosmos, große Ähnlichkeit mit diesen Tieren
haben. Hemmungslos fressen wir die Welt, in der wir leben, auf, bis wir uns am Ende gegenseitig verschlingen und auf diese Art irgendwann selber ausrotten. Und wer weiß, ob an unsere Stelle vernünftigere Wesen treten.
    Ich bleibe noch eine Weile auf dem Baumstamm sitzen, rauche und suche in meinem Strauß nach der Zauberblume mit den sieben Blütenblättern. Ich finde keine. Ich werfe die Zigarette weg und zertrete sie sorgfältig. Als ich aufstehe, um weiterzugehen, kommen aus dem Schatten der Bäume zwei Hunde auf die Lichtung. »Guten Appetit«, rufe ich ihnen zu.
    Ich gehe weiter am Bahndamm entlang. Inzwischen ist die Abenddämmerung schon ziemlich fortgeschritten, und ich habe das Gefühl, dass die nahende Dunkelheit sehr gut meiner inneren Verfassung entspricht. Sie versetzt mich in eine melancholisch-philosophische Stimmung. Plötzlich endet der Wald, und vor meinen Augen erstreckt sich das Ufer eines Flusses. Über mir sehe ich eine riesige Eisenbahnbrücke, die mich an diese grauenhaften Kriegsfilme denken lässt, in denen man solche Dinger permanent gesprengt hat. In jeder anderen Nacht hätte diese Brücke mit ihrer Monumentalität eine deprimierende Wirkung auf mich gehabt, heute jedoch hat sie etwas seltsam Anziehendes. Erst zögernd, dann immer sicherer, klettere ich die Brücke hinauf und strebe geradewegs auf ihre Mitte zu. Die Konstruktion ist wirklich überwältigend. Wenn ich den Kopf hebe und zu den riesigen Stahlbögen aufsehe, fühle ich mich sehr klein und unbedeutend. Ich wüsste gern, wie spät es ist. Weil ich keine Uhr dabeihabe, durchsuche ich meine Taschen nach dem Handy, aber ich finde es nicht.
Ich muss es wohl auf der Lichtung verloren haben. Ich stelle mir vor, wie es jetzt dort im Gras liegt und die beiden Hunde daran schnuppern. Vielleicht fängt es manchmal an zu fiepen, dann nehmen die Hunde Reißaus und beobachten es ängstlich aus sicherem Abstand. Bestimmt halten sie es für eine besonders gefährliche Ratte, die zwar nicht mehr laufen kann, aber noch am Leben ist und wütend nach ihnen schnappt. Die Hunde freuen sich auf das Festmahl und danken ihrem Hundegott für die üppige Beute, die ihnen nicht entgehen kann. Irgendwann wird sich der mutigere der beiden vorwagen, mit seinem Maul danach schnappen und den Titankörper zwischen seinen Zähnen zerknacken.
    Ganz deutlich sehe ich das Hundemaul mit den gefletschten Zähnen vor mir. Es ist ein Bild, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnere, ein Bild, das ich bis heute mit dem Tod assoziiere.
    Man weiß, dass Kinder, die in der Geborgenheit einer liebenden Familie aufwachsen, keine realistische Vorstellung vom Tod haben. Und gerade in unserer Generation war es üblich, von uns Kindern die Ahnung von der Existenz des Todes fernzuhalten. Als ich klein war, hatten wir zu Hause zwei Wellensittiche. Mehrere Male geschah es, dass einer der beiden Vögel plötzlich verschwand. Wenn ich abends ins Bett ging, waren noch zwei da, aber morgens, nach dem Aufstehen, war es nur noch einer. Jedoch konnte ich mich fest darauf verlassen, dass noch am selben Abend der andere wieder da war. Manchmal hatte sich die Färbung seines Gefieders ein wenig verändert, aber immerhin, er war wohlbehalten
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