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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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Kopf. »Walter Gruber?«, wiederholte sie ungläubig. Das war nicht möglich. Konnte nicht sein. »Ist er …«, begann sie und starrte dabei auf ihren Stift, der bei dem Namen bewegungslos in der Luft verharrt war, »bei der Kriminalpolizei?«
    »Ja. Kriminalhauptkommissar Walter Gruber, Abteilung Tötungsdelikte.« Die Mundwinkel des jungen Mannes zogen sich bitter nach unten, und schlagartig wurde Clara klar, woran sie diese dunklen, bohrenden Augen, der scharfe Blick von Anfang an erinnert hatten: an Walter Gruber, den Kommissar, mit dem und gegen den sie im vergangenen Jahr einen so verzweifelten wie vergeblichen Kampf geführt hatte.
    »Sie sind Grubers Sohn!«, rief sie aus und konnte noch immer nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Erschüttert und ratlos zugleich angelte sie sich eine Zigarette aus der Schachtel und bot dem jungen Mann, der Armin hieß, Armin Gruber, wie er ihr jetzt mitteilte, auch eine an.
    Er lehnte ab. Nichtraucher, seit zwei Jahren. Dann begann er zu erzählen. Fand nur dürre Worte, die das Schreckliche dahinter so wenig wie möglich berührten. Am Freitagmorgen habe man die … Leiche seiner Mutter gefunden. Im Englischen Garten.
    Sie war erwürgt worden.
    Armin Gruber rieb sich ein paar Mal mit den Händen über das Gesicht, bevor er weitersprach.
    Nachdem sein Vater ihn angerufen hatte, sei er am gleichen
Tag noch nach München gekommen. Aus Berlin, fügte er erklärend hinzu. Und heute Morgen seien dann die Kollegen seines Vaters gekommen und hätten ihn mitgenommen. Ohne Erklärung. »Einfach so!« Seine Stimme zitterte zwar noch etwas, aber er hatte sich jetzt wieder in der Gewalt. »›Ruf die Niklas an‹, hat er noch zu mir gesagt. ›Rechtsanwältin Clara Niklas!‹« Er zögerte, warf ihr einen forschenden Blick zu. »Sie kennen sich näher?«
    Clara schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht so besonders gut. Wir hatten letztes Jahr einen gemeinsamen Fall. Dabei haben wir uns allerdings die meiste Zeit gestritten.«
    »Mein Vater kann Anwälte nicht ausstehen«, sagte Armin Gruber.
    »Ich weiß.« Clara lächelte traurig.

DREI
    Als an diesem Tag die Sonne unterging, fühlte er sich einen Augenblick lang frei. Die Kälte war den ganzen Tag über kaum gewichen, nicht einmal in den Mittagsstunden, und schon früh am Nachmittag wurden die Schatten eisig blau. Er saß am Fenster und sah hinaus. Sah die Sonne schwächer werden und schließlich hinter den Dächern verschwinden. Die Uhr an der Wand tickte.
    Seine Gedanken wanderten durch die Straßen, kreuz und quer, und gelangten schließlich zu ihr. Er schreckte einen Moment zurück, wartete, doch es passierte nichts. Die Erde tat sich nicht auf, und kein Blitz fuhr auf ihn herab. Der Himmel blieb klar und unbeteiligt. Er wurde mutiger, tastete sich weiter vorwärts, bis er ihr ganz nahe kam. Bis er sie riechen konnte. Seine Gedanken begannen ein wenig zu zittern, zu flackern wie eine alte Glühbirne. Er konnte den Geruch nicht festhalten. Er warf einen weiteren Blick auf die Uhr, dann auf seine Hände. Es war Montag. Er war nicht gekommen. Anfangs hatte ihn das verunsichert, nervös gemacht. Das konnte doch nicht sein. Nahezu jede Minute hatte er auf die Uhr gesehen. Die Tür fixiert, den Schritten draußen im Treppenhaus gelauscht. Keinen Schritt hatte er selbst nach draußen gesetzt. Keinen einzigen Schritt. Um ihn nicht zu verpassen. Doch dann hatte er es im Radio gehört, in den Vier-Uhr-Nachrichten. Da hatte er verstanden, warum er nicht gekommen war. Und ihm war klar geworden, dass jetzt niemand mehr
kommen würde. Nie mehr. Und da war es plötzlich, das Gefühl. Ganz leise am Anfang, fast schüchtern klopfte es an. Er ließ es herein: Es war zu Ende. Endlich. Er hatte sich befreit. Mit einem großen, einem gewaltigen Schlag hatte er sich befreit.
    Das Zögern des Zeigers vor der vollen Stunde war kaum wahrnehmbar. Trotzdem hörte er es. Und auch das Klack, wenn sich der Zeiger schließlich losriss und die letzte Minute vollendete. Es unterschied sich vom üblichen Ticken, war lauter, satter. Endgültiger. Wie es sich für eine volle Stunde gehörte. Er bückte sich und hob sein Akkordeon auf die Knie. Behutsam steckte er beide Arme durch die Riemen und rückte es zurecht. Dann ließ er seine Finger lautlos über die Knöpfe und Tasten wandern, einmal nach unten, dann wieder nach oben, zog den Balg schnaufend auseinander und beugte sich nach vorne. Ganz eng angeschmiegt, den Kopf geneigt und mit geschlossenen Augen,
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