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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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und das kleine Paket fiel auf den Boden. Er merkte es nicht. Er merkte auch nicht, wie sich seine Hände wieder zusammenzogen und zu harten Fäusten ballten.

EINS
    Die Sonne war zu weit entfernt, zu blass und zu schwach, um die klirrende Kälte zu durchdringen, die die Stadt seit Tagen gefangen hielt. Nur zögernd kletterte sie über die Baumwipfel, nur schamhaft langsam wagten sich ihre Strahlen auf die von schartigem Raureif bedeckte Rasenfläche. Die Eiskristalle begannen trotzdem zu funkeln, Zentimeter für Zentimeter, kalt und schön und spitz wie Glasscherben. Endlich lag die Wiese voll im Licht, glitzernd und totenstill. Im nördlichen Teil des Englischen Gartens war es auch im Sommer ruhiger als um den Kleinhesseloher See, den Monopteros und den Chinesischen Turm herum. Aber im Winter war es einsam. Eine weitläufige Parklandschaft aus Wiesenflächen, hohen Bäumen und einsamen Wegen, die vielleicht gerade deshalb so leer und verlassen wirkte, weil sie von Menschen geschaffen worden war. Ein kunstvolles, künstliches Stück Natur. Schön und gleichzeitig unendlich traurig.
     
    Hauptkommissar Walter Gruber mied den Englischen Garten für gewöhnlich. Er mochte überhaupt keine Gärten und Parks. Nicht einmal dann, wenn sich Biergärten darin befanden. Sie deprimierten ihn. Aber eine besondere Abneigung empfand er für den Teil des Parks hinter dem Nordfriedhof, mit dem er nur schlechte Erinnerungen verband. Hier hatte sich seine Frau immer mit ihren Radlfreunden getroffen. Und bei diesen Radltreffen hatte sie den »Adi« kennengelernt, was
das Aus für ihre Ehe bedeutet hatte. Gruber schloss für einen Moment die Augen, als er daran dachte, und versuchte, das bittere Gefühl hinunterzuschlucken, das ihn noch immer überkam, wenn seine Gedanken Adolf Wimbacher streiften.
    Doch Adolf Wimbacher war passé. Stattdessen gab es die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Eine echte Chance, und er gedachte, sie zu nutzen. Er würde dieselben Fehler nicht noch einmal machen. Er war keiner von denen, die sich nicht von der Stelle bewegen konnten, selbst wenn die ganze Welt um sie herum zusammenbrach. Es dauerte vielleicht ein wenig, ja, das schon, und so manch einer würde sagen, er sei stur und dickschädelig und ein Gewohnheitstier, und das stimmte auch, aber er konnte sich auch ändern. Langsam vielleicht und erst nach ein paar Schubsern und besser noch einem Fußtritt in den Allerwertesten, aber er konnte es. Und er würde es beweisen.
     
    Aber nichts überstürzen. Keine zu großen Schritte und keine übereilten Entscheidungen. Langsam. Das hatte sie auch gesagt. Langsam. Mit jeder Geste, jedem Blick hatte sie es angemahnt. Er würde es beherzigen. Geduld hatte er, eine ganze Menge sogar. Und vor allem jetzt, nach den letzten Monaten, als ihm klar wurde, wie nahe er der Katastrophe seines Lebens gekommen war.
    Er hatte seine Frau fast verloren. Hatte sie schon endgültig verloren geglaubt: an einen Versicherungsvertreter mit Stirnglatze und Schmerbauch. Und plötzlich, als er schon nicht mehr zu hoffen wagte, hatte er noch einmal eine Chance bekommen. Er würde sie nutzen. Er würde sie festhalten. Und nicht mehr loslassen.
    »Aber langsam!«, mahnte er sich zum wiederholten Mal, als er endlich mit dem Freikratzen der Scheiben fertig war
und in sein Auto stieg. Ganz sachte. Er rieb seine roten, eiskalten Hände und hauchte ein paar Mal hinein. Saukälte! Und dann auch noch eine Leiche im Freien. Das würde wieder blau gefrorene Zehen geben, trotz der zwei Paar dicken Socken, die er sich extra angezogen hatte.
     
    »Herrgottsakrament!«, fluchte er, als der Wagen hustete und wieder abstarb. Er startete erneut, und beim dritten Versuch, kurz bevor die Batterie ihren Geist aufgegeben hätte, sprang der Wagen an. Mittlerweile waren die Scheiben schon wieder angefroren, diesmal von innen, doch Gruber machte sich nicht die Mühe, sie ein zweites Mal ordentlich freizukratzen. Am Ende würde der Wagen wieder absterben, und einen weiteren Startversuch machte die Batterie sicher nicht mehr mit. Er schaltete die Heizung auf Hochtouren und kratzte mit dem Schaber auf Augenhöhe zwei handtellergroße Gucklöcher frei. Dann fuhr er vorsichtig los, nach vorne gebeugt, die Augen konzentriert auf den kleinen Fleck Straße gerichtet, den er durch die freien Stellen erkennen konnte.
    Es war nicht weit von seiner Wohnung in Milbertshofen zum Tatort. Er bog ein paar Mal um die Ecke, langsam, mit zusammengekniffenen Augen auf den Verkehr
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