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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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letzten Gerichtstermin dachte, bei dem sich die beiden Eheleute fast an die Gurgel gegangen waren, als es darum ging, wer darüber zu entscheiden habe, welches Mountainbike für die Tochter angeschafft werden solle, und wer die Kosten für die Zahnspange und den Musikunterricht zu übernehmen habe. In dieser Verhandlung hatte sie mit den vereinten Kräften des Richters und sogar des gegnerischen Anwalts zu regeln versucht, welche Geschenke für die Kinder als angemessen anzusehen wären, ob ein Computerspiel »außer der Reihe« ein Bestechungsversuch um die Gunst des Sohnes darstelle und ob die Mutter es verbieten könne, dass der Tochter eine Barbie geschenkt würde, da sie diese Puppen für pädagogisch schädlich hielt, als Auslöser von Magersucht und Konsumwahn. Ihre Bemühungen waren vergeblich geblieben. Die Verhandlung hatte keine Einigung, ja nicht einmal
einen Minimalkompromiss gebracht. Also würde es weitergehen. Mindestens noch ein Jahr oder auch zwei oder drei. Blieb zu hoffen, dass die Kinder diesen ebenso scheinheiligen wie verbitterten Stellvertreterkrieg der Eltern um das angebliche Kindeswohl einigermaßen unbeschadet überstanden. Aber sie befürchtete, dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen würde. Auf den Nebenkriegsschauplätzen blieb immer am meisten verbrannte Erde zurück.
    Sie hakte feige, aber ohne schlechtes Gewissen den Punkt Rampertshofer als erledigt ab und griff sich eine der anderen Akten, die mit leuchtenden Klebezetteln versehen waren: Fristsache! Verhandlung!! Eilt!!!
    Gerade als sie nach dem Diktiergerät greifen wollte und ihr gleichzeitig klar wurde, dass Diktieren bei Abwesenheit der Schreibkraft wenig sinnvoll war, klingelte die Türglocke, ein Relikt aus alten Zeiten, in denen die Kanzlei ein Buchladen gewesen war. Clara hob überrascht den Kopf. Sie erwartete niemanden.
    In der Tür stand ein junger Mann und sah sich suchend um. Clara hatte ihn noch nie gesehen. Sie stand auf und ging die wenigen Treppen zum Eingangsbereich hinunter.
    »Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?« Sie musterte ihn neugierig. Er war etwa Anfang zwanzig, blass, dunkelhaarig und schien sich definitiv nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, und sein Blick flatterte zwischen Clara und seinen Schuhspitzen hin und her. Er hatte dunkle, sehr dunkle Augen, die Clara an jemanden erinnerten, doch sie kam nicht darauf, an wen.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte sie, nachdem der Mann nicht geantwortet hatte.
    »Sind Sie Rechtsanwältin Clara Niklas?« Der Blick des jungen Mannes traf endlich Claras Augen.

    »In voller Größe.« Sie reckte sich und lächelte aufmunternd. »Was haben Sie denn auf dem Herzen?«
    Der junge Mann schnappte nach Luft, als befände er sich kurz vor dem Ertrinken, und schloss für einen Moment gequält die Augen. »Also …«, begann er zögernd, stoppte wieder und schluckte schwer. »Mein, mein Vater hat mich zu Ihnen geschickt …« Seine Stimme erstarb.
    »Ja?«, versuchte Clara ihm auf die Sprünge zu helfen. »Worum geht es denn?«
    »Sie haben ihn … äh … heute Morgen haben sie ihn …«, er begann zu stottern, und sein blasses Gesicht wurde rot. »Sie haben ihn verhaftet!«, stieß er endlich hervor, und sein Kinn fing vor Erregung an zu zittern. Er biss sich auf die Lippen.
    Clara nahm ihn vorsichtig am Arm: »Kommen Sie mit nach oben. Dort können Sie mir alles in Ruhe erzählen.«
     
    »Ihr Vater wurde also heute Morgen verhaftet«, begann Clara behutsam, als sie oben an ihrem Schreibtisch saßen. »Wissen Sie, was man ihm vorwirft?«
    Der Mann nickte und wandte den Blick ab. »Mord«, flüsterte er, und nach einer Ewigkeit und dem verzweifelten Versuch, seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bekommen, fügte er hinzu: »An meiner Mutter.« Dann fing er zu weinen an.
    Clara sah ihn erschüttert an. Öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, und klappte ihn dann wieder zu. Nach einigen Augenblicken des Schweigens, in denen sich der Mann wieder zu sammeln versuchte, unternahm sie einen neuen Anlauf. Sie verkniff sich sinnlose Worte der Anteilnahme, die ohnehin nur heuchlerisch gewirkt hätten, und fragte stattdessen so sachlich wie möglich: »Ihr Vater möchte also, dass ich ihn vertrete?«

    Der junge Mann nickte.
    »Er ist hier in München in Haft?«
    Wieder ein Nicken.
    Clara nahm einen Zettel. »Dann bräuchte ich noch seinen Namen und die Wohnanschrift …«
    »Gruber. Walter Gruber.«
    Clara hob den
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