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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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begann er zu spielen.

    Clara wartete bereits ein halbe Stunde. Sie fühlte sich äußerst unbehaglich, und das nicht nur wegen der bedrückenden Enge des Raumes. Sie hatte Angst, dem Mann gegenüberzutreten, auf den sie wartete. So gesehen konnte es, wenn es nach ihr ging, ruhig noch eine weitere halbe Stunde dauern, bis er kam. Ihre Finger fuhren an den abgeschabten Kanten des Tisches entlang, bohrten sich in eine Kerbe an der Ecke, kletterten weiter zu der Schachtel Zigaretten, die unberührt vor ihr lag, und machten kurz Halt, als sie den leeren Notizblock erreichten. Trommelten auf das weiße Papier, tam, tatatam, rollten den Füller hin und her und nahmen dann ihre Entdeckungsreise über den Tisch wieder auf.
    Was sollte sie zu ihm sagen? In welcher Verfassung würde
er sein? Sie versuchte, sich ein Bild zu machen, aber es gelang ihr nicht. Wie fühlte man sich, wenn die eigene Frau ermordet worden war? Man selbst dafür im Gefängnis saß? Als Polizist. Von den eigenen Leuten verhaftet.
    Sie hatte es an dem Abend, nachdem Grubers Sohn zu ihr gekommen war, noch in den Nachrichten gehört. Eine äußerst knappe Meldung, nicht viel mehr als ein, zwei spröde Sätze. Clara konnte sich gut vorstellen, wie die Pressestelle der Polizei sich hatte überwinden müssen, überhaupt etwas davon preiszugeben. Ein Mordverdächtiger in den eigenen Reihen. Und nicht irgendein kleiner Streifenpolizist, dem die Nerven durchgegangen waren, nein, ein Kriminalhauptkommissar. Der Nachrichtensprecher hatte hörbar Mühe gehabt, den neutralen Ton seiner Stimme nicht zu verlieren. Man kannte Kommissar Gruber in München. Ein paar aufsehenerregende Ermittlungen der vergangenen Jahre gingen auf sein Konto, zuletzt der Fall Ruth Imhofen, an dem Clara nicht unmaßgeblich beteiligt gewesen war.
     
    Als endlich die Tür aufging, fuhr sie zusammen. Nervös wischte sie sich ihre feuchten Hände an der Hose ab und stand zögernd auf.
    Der Beamte, der Gruber hereinbrachte, fühlte sich in seiner Rolle ebenfalls sichtlich unwohl. Stumm und mit verlegen gesenktem Blick schloss er die Tür, während Gruber ein paar Schritte auf Clara zukam und dann stehen blieb.
    Clara wollte ihm die Hand reichen, ließ es dann aber sein. »Hallo«, begann sie verlegen und musste sich räuspern.
    Gruber nickte, und das altbekannte, bittere Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »So sieht man sich wieder«, sagte er.
    Sie setzten sich schweigend. Es war, als wäre zwischen ihnen
nicht genügend Raum für Worte: Gruber und sie in diesem winzigen Zimmer, ein Tisch, zwei Stühle, der Beamte vor der Tür. Ihre Rollen hatten sich auf eine Art und Weise umgekehrt, die beide sprachlos machte.
    Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte Clara dieses Schweigen nicht ausgehalten. Sie hätte sofort angefangen, nach Worten zu suchen, um es zu durchbrechen, wäre vorgeprescht, hätte es mit vielen Worten und leeren Phrasen totgeschlagen. Heute war es anders. Clara hatte nicht das Bedürfnis, irgendetwas zu sagen. Sie empfand dieses gemeinsame Schweigen fast ein wenig erholsam nach dem inneren Aufruhr, den die Nachricht von Grubers Verhaftung und die Bitte an sie, ihn zu verteidigen, bei ihr verursacht hatten.
    Gruber schien es ähnlich zu gehen. Er saß reglos auf seinem Stuhl, die Unterarme auf die Tischplatte gestützt, die Hände ineinander verschränkt, und starrte vor sich hin. Dann, nach einer Weile absoluter Stille, begann er zu sprechen.
    Er flüchtete sich in Polizeiberichtjargon: Am Freitagmorgen hatte man an der Uferböschung des Schwabinger Bachs die Leiche einer Frau gefunden. Seine Kollegin Sommer hatte ihn gleich nach der Meldung angerufen, noch bevor jemand wusste, um wen es sich handelte. Erst ein Kollege von der Spurensicherung, Roland Hertzner, hatte Irmgard Gruber erkannt. Doch da war es zu spät gewesen, ihn noch vorzuwarnen. In Erinnerung an den Moment, in dem er seine Frau gesehen hatte, verlor Grubers Stimme den unbeteiligten Nachrichtenton und wurde brüchig. Er wandte den Blick von Clara ab, hinauf zu den winzigen Fensterschlitzen oben an der Wand.
    Clara musterte ihn mitfühlend. Äußerlich merkte man ihm nichts an, er sah aus wie immer. Ein bisschen dünner vielleicht, aber das konnte täuschen, ein bisschen blasser. Aber
seine Augen. Sie waren … Clara fand keine Bezeichnung dafür, was aus dem einst so durchdringend scharfen Blick des Kommissars geworden war. Erschöpft. Verzweifelt. Müde. Nichts davon wurde dem gerecht, was sie sah. Manche Dinge
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