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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Schritte, die sie unternehmen musste, um ihrem neuen Mandanten zu helfen. Sie dachte über sich nach. Über sich und Gruber. Warum war sie so gemein gewesen? Hatte absichtlich Worte benutzt, die ihn verletzen mussten. Es reichte nicht aus, sich zu sagen, er habe sie dazu herausgefordert. Was hatte er schon gesagt? Nichts, was man nicht mit einem freundlichen Lächeln, einem leichten Satz hätte übergehen können: Keine Sorge, wenn es nötig ist, kann ich meine Zähne schon zeigen, oder so etwas in der Art. Es war nicht professionell gewesen. Kein bisschen. Und das ärgerte sie.
    Sie zündete sich eine Zigarette an und sah zu, wie sich der Rauch langsam verteilte. Sie würde kräftig lüften müssen, bevor Linda und Willi wiederkamen. Außerdem war es kalt. Sie hatte vergessen, Feuer im Ofen zu machen, und die uralte Heizung war den derzeitigen Temperaturen nicht gewachsen. Zu zugig waren der offene Raum und das riesige Schaufenster. Von Wärmedämmung keine Spur. Sie trank einen Schluck Kaffee und wärmte ihre Hände an der heißen Tasse.
    Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass sie genau wusste, warum sie so reagiert hatte. Es war wie immer: Um Distanz zu wahren, wurde sie aggressiv. Im letzten Jahr war Gruber ihr Gegner gewesen. Ein hartnäckiger, verbissener
Gegner in einem Fall, der ein böses Ende genommen hatte. Am Ende hatten sie beide verloren. Aber sie hatten dadurch so etwas wie Respekt voreinander gewonnen. Bei aller Wut, die sie auf ihn gehabt hatte, wegen seiner Borniertheit, seiner Weigerung, die Dinge so zu sehen wie sie, hatte sie ihn doch am Ende schätzen gelernt. Ihn jetzt so zu sehen, in Haft, hilflos und von dieser persönlichen Tragödie gezeichnet, war unerträglich gewesen. Sie konnte damit nicht umgehen. War nicht in der Lage, ihren Beruf von ihren Gefühlen zu trennen. »Weichei«, schimpfte sie leise vor sich hin. »Hast den falschen Beruf gelernt.« Dann drückte sie die Zigarette aus und schlug die Akte auf.
    Die Sache war klar. So sonnenklar, dass es weh tat. Wie Gruber schon gesagt hatte, gab es keinerlei Hinweise auf eine dritte Person in Irmgard Grubers Wohnung. Der Tatortbefundbericht listete akribisch die Spuren auf, aus denen der Hergang des Abends rekonstruiert werden konnte. Die Reste eines romantischen Abendessens: Antipasti, Salat, Nudeln mit Scampi, Tiramisù. Eine halbleere Flasche Weißwein, eine leere Flasche Prosecco, drei Flaschen Pils. Kerzen auf dem Tisch, Stoffservietten. Die Teller und das Besteck hatten noch auf dem Esstisch gestanden, nur beiseitegeschoben. Keine Zeit zum Aufräumen. Sie hatten geredet. Die halbe Nacht geredet. Und dann »Spuren von Geschlechtsverkehr« auf der Bettwäsche, Spermaspuren im Bad. Fingerabdrücke von Gruber in Küche, Wohn- und Schlafzimmer, im Bad, im Flur, überall.
    Clara zündete sich eine neue Zigarette an. Sie wollte das alles nicht lesen, sich nicht vorstellen. Doch trotzdem blätterte sie weiter, und ein Teil ihres Geistes, der Teil, der von ihrem Widerwillen, sich mit der Sache zu beschäftigen, unberührt geblieben war, begann, nach einem Punkt zu suchen,
an dem sie ansetzen konnte, eine Unstimmigkeit, ein Zweifel, etwas, das für Gruber sprach. Doch es gab nichts. Im Gegenteil. Im hinteren Teil der Akte fand sie die Kopie eines Eintrags aus Grubers Personalakte. Der Eintrag war vom vergangenen Sommer und betraf einen Vorfall während der Vernehmung eines Verdächtigen. Dieser hatte behauptet, Gruber sei ihm gegenüber handgreiflich geworden, habe ihm mit dem Unterarm gegen die Kehle gedrückt und ihn gegen die Wand gepresst. Weiter war darüber nichts zu finden. Offenbar hatte man gegen Gruber deswegen keine Schritte eingeleitet. Es gab auch keine Stellungnahme Grubers oder seines Vorgesetzten dazu. Aber allein die Tatsache, dass sich dieser Eintrag in der Akte befand, war schon schlimm genug. Dabei spielte es keine große Rolle, ob es sich tatsächlich so zugetragen hatte oder nicht. Es genügte, um ein schlechtes Licht auf Walter Gruber zu werfen.
    Clara las Grubers Vernehmungsprotokoll, das sich mit seinen Angaben ihr gegenüber deckte: Er war am Donnerstagabend um acht zu seiner Frau gegangen und bis kurz vor fünf geblieben. Er hatte niemanden bemerkt, als er das Haus verließ. Um acht Uhr am nächsten Morgen war er von seiner Kollegin telefonisch über den Leichenfund im Englischen Garten informiert worden.
    Außer Grubers Aussage gab es noch die Protokolle zweier Kollegen am Tatort, von Sabine Sommer, die Clara

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