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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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einem Schlag kam wieder Leben in sie. Sie drehte sich um und hämmerte an die einzige Tür im Erdgeschoss. »HILFE! HALLO!« Sie klingelte Sturm, trat gegen die Wohnungstür und schrie. Endlich hörte sie etwas, hastige Schritte, ein Flüstern hinter der Tür, doch niemand öffnete. Sie konnte es den Leuten, die dort wohnten, nicht verdenken. Wahrscheinlich sah sie schrecklich aus, und es war mitten in der Nacht. »FEUER!«, rief sie und sah direkt in den Türspion. »Es brennt im ersten Stock! Rufen Sie die Feuerwehr und die Polizei!«
    Hinter dem Spion konnte man eine vage Bewegung wahrnehmen, und endlich öffnete sich die Tür. Ein alter Mann im Schlafanzug und ohne Zähne stand vor ihr und starrte sie erschrocken an. Hinter ihm lugte ein kleines Weiblein hervor, das einen rosa Bademantel trug. Clara deutete nach oben: »Bei Herrn Gerlach brennt es! Rufen Sie die Feuerwehr! Schnell!«
    Der Mann nickte. »Feuerwehr!«, wiederholte er nuschelnd, und bevor Clara eintreten konnte, hatte er die Tür wieder zugeschlagen.
    Clara sah nach oben. Der Rauch war jetzt deutlich wahrzunehmen, und sie glaubte, im trüben Licht des Treppenhauses feine Rauchfahnen zu sehen. Sie lief wieder nach oben, zögerte
einen Augenblick und sperrte dann die Tür auf. Beißender Rauch schlug ihr entgegen. Sie musste heftig husten und hielt sich einen Zipfel ihres Pullovers vors Gesicht. Man konnte die Hand kaum vor den Augen sehen, so dicht war der schwarze stinkende Qualm. Clara hastete durch den Flur und stieß mit dem Fuß die Tür zum Wohnzimmer weit auf.
    Gerlach saß auf dem Stuhl neben dem Sofa, sein Akkordeon noch umgeschnallt, doch er spielte nicht mehr. Um ihn herum brannte der Teppich. Das Feuer hatte sich noch nicht besonders weit ausgebreitet, doch die Rauchentwicklung war enorm. Clara griff nach einer noch nicht brennenden Ecke des Teppichs und schlug ihn um, so dass sie zu Gerlach gelangen konnte. Er hatte die Augen geschlossen, doch seine Finger bewegten sich noch auf den Tasten, ohne einen Ton zu erzeugen. Sie gab ihm zwei heftige Ohrfeigen. »Sie werden sich nicht so davonstehlen«, schrie sie ihn an und bekam einen weiteren Hustenanfall.
    Er öffnete die Augen, und Clara zog ihn rüde am Arm. Gehorsam und ohne Gegenwehr stand er auf und stolperte schwerfällig hinter ihr her, das Akkordeon fest umklammert. Es gab merkwürdige, schrille Töne von sich, die in dem dunklen Rauch körperlos und gespenstisch nachhallten. Endlich erreichten sie die Tür. Clara fiel fast nach draußen, konnte sich nur halten, weil sie Gerlach noch gepackt hielt. Sie zog ihn weiter, die Treppe hinunter zur Haustür.
    Die beiden alten Leute vom Erdgeschoss hatten sich wieder hervorgewagt, und der alte Mann hatte seine Zähne eingesetzt. »Polizei und Feuerwehr kommen!«, vermeldete er mit noch immer schreckgeweiteten Augen. Seine Frau hatte seine linke Hand fest umklammert und tätschelte sie, obwohl sie selbst zitterte wie Espenlaub.
    Im gleichen Moment hörte Clara von weitem Sirenen und
ließ Gerlach abrupt los. Er blieb einfach stehen, das Akkordeon hing vor seinem Bauch. »Sie kommen«, flüsterte sie in die Nacht hinaus. »Alles ist gut. Sie kommen schon.«
     
    Sie ging durch die leere Straße. Der Weg war viel weiter, als sie geglaubt hatte. In der Ferne, gegen den schmutziggrauen Nachthimmel der Stadt erhob sich eine dunkle Wand aus dünnen Fingern. Bäume. Sie ging schneller. Hinter sich hörte sie Geräusche. Leute redeten, laute Stimmen, jemand kreischte. Sie sah, wie das Blaulicht die Hauswand entlangzuckte. Polizei und Feuerwehr. Sie waren jetzt da. Und die Polizei hatte ihn festgenommen. Sie hatte es gesehen. Da war sie losgelaufen. Aus den Augenwinkeln hatte sie noch etwas anderes gesehen, ein weiteres Auto, das ganz schnell angefahren kam und vor dem Haus bremste, mit quietschenden Reifen wie im Film. Es war ein grauer BMW, der ihr irgendwie bekannt vorgekommen war, doch sie konnte nicht warten, sie musste weg. Alles war gut. Sie ging schneller. Es war wichtig zu sehen, was das für Bäume waren. Sie hätte die beiden Alten fragen sollen, aber die hätten sowieso nichts sagen können, sie waren viel zu erschrocken gewesen.
    Endlich hatte sie das Ende der Straße erreicht. Hohe kahle Bäume. Still und majestätisch hinter einer Mauer. Sie befand sich an einer Stichstraße. Vor ihr führte eine weitere Straße quer vorbei. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor, doch sie konnte trotzdem noch nicht sagen, wo sie sich befand. Hinter ihr
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