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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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achtend, dann lichtete sich der Nebel auf der Scheibe. Die Gucklöcher vergrößerten sich, und er fuhr rechts auf den Frankfurter Ring. Dann bog er wieder ab, stadteinwärts, an der U-Bahn-Station Alte Heide vorbei.
    »Gleich hinter dem Nordfriedhof, unmittelbar an dem Spazierweg, der am Schwabinger Bach entlangführt«, hatte Kollegin Sommer ihm am Telefon mitgeteilt.
    Er hatte ihr ungläubig zugehört. Sogar nachgefragt: »An dem Spazierweg? An dem Spazierweg?«
    »Ja, da sind doch die Parkplätze hinter dem Nordfriedhof,
direkt an der Straße, und da geht ein Spazierweg ab, gegenüber ist eine große Wiese«, hatte sie ihm erklärt, so, als ob sie einen Idioten am anderen Ende der Leitung hätte, der sich in München nicht auskannte. Als ob er den Ort nicht kennen würde. Er kannte ihn nur zu gut, und das nicht nur wegen Adi und dem Radltreff seiner Frau.
    »Bin in fünf Minuten da«, hatte er geraunzt und ohne ein weiteres Wort aufgelegt. Wie kam es, dass die Sommer sich nicht erinnerte? Konnte das sein? Oder erinnerte sie sich und fand es nicht wichtig? Eine Leiche vor, wann war das? Es war auch im Winter gewesen, kurz vor Weihnachten, also war es schon über ein Jahr her. So lange schon?
    Gruber schüttelte den Kopf und seufzte. War das ein Zeichen zunehmender Senilität, dass man sich an die Dinge immer besser erinnerte, je weiter sie in der Vergangenheit lagen? Eigentlich hatte er sich den heutigen Morgen etwas anders vorgestellt. Ein bisschen Zeit zum Nachdenken hätte er sich gewünscht, eine Tasse Kaffee am Fenster seines Büros, ein bisschen Papierkram, bei dem man nicht viel denken musste. Und dann und wann ein hoffnungsvoller Blick auf das Handy, ob sie wohl … oder ob er … Nur ein kurzes »Hallo« und »Guten Morgen, na, ausgeschlafen?«. Nein - Zeit! Geduld! Doch schon diese Mahnung bereitete ihm eine stille Freude.
    Denn sie bedeutete Hoffnung. Er würde es nicht mehr versauen. Diesmal nicht.
     
    Er sah die Einsatzfahrzeuge schon von weitem. In den Parkbuchten entlang der Straße standen die Autos seiner Kollegen. Gruber parkte hinter dem Wagen von Kollegin Sommer und stieg aus. Plötzlich fühlte er sich müde. Er war nicht für eine neue Mordermittlung bereit. Hatte nicht die Kraft für
unzählige Überstunden und den ständigen Druck von allen Seiten. Er dachte an die prüfenden Seitenblicke seiner Kollegin, ihren Ehrgeiz und ihre Perfektion, die ihm immer etwas unheimlich war, und seine Müdigkeit verstärkte sich noch. Seine Beine fühlten sich bleischwer an, und anstatt hinüber zu seinen Kollegen zu gehen, blieb er stehen, die Hände in den Manteltaschen, und hob seinen Blick in den frostigen, klaren Himmel. Er hatte in der Nacht kaum geschlafen, höchstens zwei, drei Stunden.
    Ein feines, melancholisches Lächeln durchbrach seine Erschöpfung, als er an den Grund für den fehlenden Schlaf dachte, und das gab ihm neue Kraft. Eine neue Ermittlung würde ihn ablenken, würde ihm helfen, die Sache langsam angehen zu lassen, würde ihn am Grübeln hindern. Er klappte seinen Mantelkragen hoch und setzte sich endlich in Bewegung.
    Unter den kahlen Bäumen an der Uferböschung erspähte er den kurzen, blonden Haarschopf von Sabine Sommer und daneben eine bunt geringelte Strickmütze. Sie gehörte zu Roland von der Spurensicherung. Roland Hertzner, Heavy-Metal-Fan und in seiner Freizeit Bassgitarrist in einer düsteren Band mit unaussprechlichem Namen. Ein supergenauer Arbeiter, der sich in die Untersuchung von Erdkrümeln und Staubflusen, und was sonst noch alles zu den Freuden seines Jobs gehörte, geradezu hineinfressen konnte. Jetzt stand er mit verschränkten Armen neben Sabine und hörte ihr zu, wie sie etwas erklärte. Hertzner senkte den Blick die Böschung hinunter. Der Schwabinger Bach, der von der Reitschule in Schwabing bis hinaus nach Freimann eine natürliche Grenze zwischen dem Englischen Garten und dem westlichen Stadtgebiet bildete und dann weiter durch die Isarauen bis nach Ismaning floss, machte hier am Rande der ausgedehnten Sportanlagen des Vereins Blau-Weiß eine Kurve. Eine flache
Böschung führte zum Bach hinunter, der sich dort im Knick zu einem kleinen, flachen Teich verbreiterte. Im Sommer war es hier sicher sehr schön. Jetzt, im Winter, war die Stimmung melancholisch, fast ein wenig unheimlich. Kahles Gestrüpp stakte im Schatten einiger krumm gewachsener Bäume am Ufer, und auf dem Grund des Baches lag eine dicke Schicht brauner Blätter vom Herbst, was dem
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