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Seelengift

Titel: Seelengift
Autoren: Veronika Rusch
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ansonsten klaren Wasser einen moorigen, bräunlichen Schimmer verlieh.
    Gruber versuchte, der Beklemmung Herr zu werden, die ihn erfasste, als er Rolands Blick zu der Stelle folgte, wo die Leiche liegen musste: Es war genau dieselbe Stelle wie damals. Haargenau. Warum hatte die Sommer davon nichts am Telefon gesagt? Erinnerte sie sich tatsächlich nicht? Aber das konnte doch nicht sein. Es war nicht möglich. Sie war schließlich dabei gewesen, von Anfang an. Sicher, es hatte keine große Ermittlung gegeben, notgedrungen hatten sie den Fall nach kurzer Zeit eingestellt, aber ihn hatte er trotzdem sehr berührt. Und wütend gemacht, unglaublich wütend. Selten hatte er sich so hilflos gefühlt wie in dem Moment, als er diese Akte ins Archiv geben musste. Er wusste bis heute nicht einmal genau, warum ihn gerade diese Geschichte so betroffen gemacht hatte. Der Fall hatte im Grunde nicht einmal zu seinem eigentlichen Zuständigkeitsbereich gehört, zumindest nicht im strafrechtlichen Sinn. Für Gruber hatte das jedoch keinen Unterschied gemacht: Es war ein Verbrechen gewesen. Grausam, gefühllos, eiskalt. Und was das Schlimmste daran war: Niemand hatte dafür gesühnt.
     
    Als Gruber das Absperrband hochhob und darunter hindurchschlüpfte, bemerkten ihn die beiden. Er hob grüßend die Hand, doch weder Roland noch Sabine grüßten zurück. Sie starrten ihn mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck
an, und Gruber ließ die Hand sinken. Angst machte sich in seinem Magen breit, ohne dass er gewusst hätte, wovor.
    »Was ist …«, begann er und spürte, wie er zu zittern anfing. Die Kälte, versuchte er sich zu beruhigen, das ist diese mörderische Kälte. Er wollte zu ihnen hinuntergehen, doch eine abwehrende Handbewegung von Sabine Sommer hielt ihn davon ab.
    Endlich, es sah aus, als habe Roland ihr erst einen Schubs geben müssen, kam sie zu ihm. »Warte!«, rief sie, »Bitte, Walter, warte …«
    Doch es war zu spät. Gruber konnte nicht mehr warten. Sein Blick hatte die Leiche bereits gefunden. Sie lag auf halber Höhe der Uferböschung, eingekeilt zwischen dem kahlen Unterholz, die nackten Glieder steif von sich gestreckt wie eine entsorgte Schaufensterpuppe.
    Etwas in Gruber zog sich schmerzhaft zusammen. Es wurde dunkel um ihn herum. Der Himmel, vor wenigen Sekunden noch strahlend blau, verlor plötzlich an Farbe, ebenso wie alles andere. Gruber machte einen Schritt nach vorne, spürte, wie seine Kollegin versuchte, ihn festzuhalten, schüttelte ihren Griff ab. Noch einen Schritt, noch einen und noch einen. Er stolperte die Böschung hinunter auf den blassen Fremdkörper zu, der dort zwischen den Ästen steckte. Jemand fluchte, es war wohl Roland, doch Gruber nahm es nicht wirklich wahr. Dann war er angekommen, fiel auf die Knie und wusste nicht mehr weiter.
    Er starrte auf den nackten Körper seiner Frau und konnte noch immer nicht begreifen, was er da sah. »Geduld«, flüsterte er, als habe das noch irgendeine Bedeutung. »Ich hätte doch Geduld gehabt …« Er nahm ihre Hand. Sie war eiskalt, steif, nichts Vertrautes lag mehr darin. Er ließ sie wieder los und spürte, wie das Zittern stärker wurde. Sein ganzer Körper
zitterte, doch es lag nicht an der Kälte, es kam von innen.
    Ein Knacken hinter ihm verriet, dass die beiden Kollegen ihm gefolgt waren.
    »Walter, bitte …«, begann Sabine Sommer erneut, und Gruber fuhr herum.
    »Weg!«, schrie er plötzlich. »Haut ab! Sofort!« Er machte eine drohende Handbewegung in Richtung Sabine, die sofort stehen blieb.
    »Walter, du bist doch Polizist. Du weißt doch, dass wir die Spuren …«
    Er hasste diesen Ton, diesen behutsamen Polizisten-Betroffenheits-Scheißton, den er oft genug selbst angewandt hatte. Aber nicht bei ihm. Er stand auf und fing an, seinen Mantel aufzuknöpfen. Schlimmer als alles andere, absolut unerträglich war ihm plötzlich der Gedanke, dass die anderen seine Frau so sehen konnten: nackt, entblößt, den Blicken preisgegeben, ohne sich wehren zu können. Er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er achtete nicht darauf, zog seinen Mantel aus und breitete ihn über ihren leblosen Körper. Dann setzte er sich neben sie und wartete. Darauf, dass sie kämen und auf ihn einredeten, um ihn dazu zu bringen, wieder nach oben zu gehen. Versuchten, ihn mit einer Tasse Tee, einem Schulterklopfen, einem Hinweis auf seine Professionalität fortzulocken. Darauf, dass sie wütend würden und dann still, hilflos verstummten.
    Es dauerte fast
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