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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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geworden. Der Hof stand ein Stück vom Meer entfernt, so dass man auch keinen Fischfang betreiben konnte. Möglicherweise hatten die ersten Bewohner Frieden und Ruhe gesucht. Und davon gab es mehr als genug.
    Bis Keflavík fuhr man eine halbe Stunde und bis Reykjavík eine gute Stunde. Am Anfang wollte Aldís möglichst oft in die Stadt fahren, hatte aber nur selten eine Mitfahrgelegenheit bekommen. Sie besaß kein Auto, und das Ehepaar nahm sie nur ungern mit. Entweder war der Wagen gerade voller Gerümpel, oder es war unsicher, wann sie zurückführen. Aber das war auch kein Weltuntergang, und sie beharrte nicht darauf, gab stattdessen weniger Geld aus und würde früher von hier wegkommen.
    Mit jedem Schritt spürte sie, wie die Lethargie, die sich den Tag über langsam und nagend in ihr eingenistet hatte, nachließ. Sie blickte über das Grundstück und suchte nach dem armen Vogel, der im Herbst aufgetaucht war – zurückgeblieben, als die anderen Zugvögel sich auf den Weg in den Süden gemacht hatten. Vielleicht hatte er gemerkt, dass er zu alt für eine so lange Reise war, oder sich verletzt, wobei man ihm das nicht ansah. Aldís tat der einsame, hilflose Kerl leid. Deshalb schob sie ihm Brotkrümel und Reste aus der Küche zu, was ihn bisher am Leben gehalten hatte.
    Der Vogel war nirgends zu sehen, und Aldís legte eine getrocknete Brotkruste an die übliche Stelle, an die Giebelseite des Hauptgebäudes. Dort war es wettergeschützt, und wenn kein Schnee fiel, konnte der Vogel sich später oder in der Nacht darüber hermachen. Sie beschleunigte ihre Schritte, obwohl nichts Besonderes auf sie wartete; nach der Arbeit legte sie sich meistens aufs Bett und las, hörte sich vielleicht vor dem Einschlafen die Abendlesung im Radio an. Auch wenn ihr die Geschichten meistens nicht gefielen, war es besser, die in den Ohren zu haben als das Schnarchen der Arbeiter, die mit ihr in einem Haus wohnten.
    Schwacher Rauchgeruch drang ihr in die Nase, und sie sah, wie die orangefarbene Glut einer Zigarette Hákons Gesicht aufhellte. Die drei Männer, mit denen sie das Haus teilte, rauchten alle wie die Schlote. Doch obwohl sie meistens drinnen qualmten, war selbst ihnen der Rauch manchmal zu viel, und sie gingen mit ihren Zigaretten hinaus auf die Treppe. Hákon starrte vor sich hin und sah Aldís nicht an, musste sie aber bemerkt haben. Er war meistens schweigsam, und obwohl sie seit einem halben Jahr unter einem Dach schliefen, kannte sie ihn kaum. Dasselbe galt für Malli und Steini, die ebenfalls Zimmer in dieser Bruchbude hatten, die den hochgestochenen Namen »Mitarbeiterunterkunft« trug. Untereinander nannten sie sie jedoch immer nur das kleine Haus. Sie hatten ein gemeinsames Wohnzimmer, das keiner besonders oft benutzte, der Fernseher war kaputt, und in dem Kartenspiel, das auf dem Couchtisch lag, fehlten zwei Karten. Da war es besser, in seinem Zimmer zu bleiben und seinen Gedanken nachzuhängen.
    »Bist du jetzt erst fertig?« Hákons Worte waren von Qualm begleitet, der aus seinem Mund drang.
    »Ja. Die Jungen haben noch Zäune repariert und waren spät zum Essen.«
    Die Heimbewohner mussten Arbeiten auf dem Hof verrichten, wofür sie nichts extra bekamen. Sie halfen allerdings manchmal auf anderen Höfen aus und durften dann ihren Lohn behalten, ebenso wie in den seltenen Fällen, wenn sie Aushilfsjobs in den Fischfabriken im Bezirk Suðurnes ergatterten. Doch angesichts der Schufterei bekamen die armen Kerle beschämend wenig für ihre Arbeit. Genau wie sie.
    »Nachher kommt ein Neuer«, fügte Aldís erklärend hinzu.
    »Ja.«
    An diesem Ort gab es nicht viel zu reden, und normalerweise hätte Hákon ihr nur zugenickt und vielleicht gute Nacht gewünscht. Er war viel älter als sie und schien eine lange Karriere als Kleinkrimineller hinter sich zu haben, wenn man Liljas Gewäsch Glauben schenken konnte. Scheckbetrug und Einbrüche, um seine maßlose Sauferei zu finanzieren, die er nun anscheinend in den Griff bekommen hatte. Doch seine Augen waren immer noch rot unterlaufen, und seine Hände zitterten ständig.
    »Weißt du was über ihn?«, fragte Aldís, um nicht patzig zu wirken. Im Grunde konnte ihr der Junge so was von egal sein. Sie kamen alle lärmend und mit Wut im Bauch an, aber die Großspurigkeit fiel schnell von ihnen ab. Selbst die wildesten und brutalsten gaben frustriert auf – sie bekamen keinen Besuch und keine Post. Genauso wenig wie Aldís.
    »Er ist aus der Stadt. Reykjavík, glaube
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