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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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verloren. Aldís schoss durch den Kopf, dass er womöglich dasselbe sah wie sie, wenn sie Lilja anschaute – ein Grauen, das sich nicht wegdrängen ließ.
    Aldís machte sich wieder an den Abwasch. Sie wollte jetzt nicht an die Sache denken, versuchte ihre Chefin, die immer noch hinter ihr stand, zu ignorieren und klapperte laut mit dem Geschirr, um Liljas schweren Atem zu übertönen. Sie wusste, dass es zwecklos war, sie zu bitten, wegzugehen, denn obwohl Aldís nicht der einzige arbeitende Mensch auf dem Hof war, beaufsichtigte Lilja nie die Arbeiter. Wahrscheinlich waren ihr die Männer nicht geheuer.
    Die feuchten Gummihandschuhe waren widerwärtig, und Aldís dachte plötzlich daran, dass Veigar womöglich ein Auge auf sie geworfen haben könnte und Lilja sich deshalb ihr gegenüber so verhielt. Der Gedanke war unerträglich. Die Jungen reichten ihr schon. Ihre Augen verfolgten sie auf Schritt und Tritt, und manchmal fühlte sie sich wie ein Huhn, das gezwungen war, an einem Rudel Nerze vorbeizugehen. Sie hatte nicht direkt Angst vor ihnen, aber es war trotzdem unangenehm, wie sie sie mit ihren Blicken ausmaßen. Die Jungen waren zwischen dreizehn und sechzehn Jahre alt, und Aldís wurde bald zweiundzwanzig. Doch der Altersunterschied war ihnen egal – sie war eine Frau, das reichte. Es spielte keine Rolle, dass sie ihre Rundungen verdeckte und sich so wenig wie möglich um ihr Äußeres kümmerte, ihre Haare zu einem Pferdeschwanz band und sich nicht schminkte; stets verfolgten die Augen der Jungen jede einzelne ihrer Bewegungen. Und bald wären noch mehr da.
    Was sie noch unsicherer machte, war die schreiende Stille, die eintrat, wenn sie anfingen zu starren, als würden sie auf etwas warten, von dem sie nicht wusste und nicht wissen wollte, was es war. Oft schreckte sie mitten in der Nacht von einem Traum hoch, in dem sieben Jungen sie anglotzten, schweigend und ohne mit der Wimper zu zucken. Sie konnte sich nie erinnern, worum es in dem Traum eigentlich gegangen war, und wenn sie am nächsten Morgen versuchte, ihn sich ins Gedächtnis zu rufen, fing ihr Herz an zu pochen und sie sah nur noch diese tiefschwarzen Augen vor sich. Ihre lächerlichen Versuche, sich einzureden, der Traum spiegele nur die Sehnsucht der Jungen nach Zuneigung und Wärme wider, waren zwecklos, und sie hatte mit der Zeit gelernt, nach dem Aufwachen nicht mehr darüber nachzugrübeln, sich einfach auf die andere Seite zu drehen und an etwas anderes zu denken. Zum Beispiel daran, wann es günstig wäre, zu kündigen und sich vom Acker zu machen. Im Kopf auszurechnen, wie viel sie jeden Monat zurücklegen konnte und was sie schon an Ersparnissen hatte. Wenn sie nicht alles täuschte, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie nach Reykjavík fahren könnte, ihr Erspartes würde bald für eine Zimmermiete und Verpflegung reichen, während sie sich nach einem neuen Job umschaute. Einem richtigen Job. Anschließend würde sie nie mehr herkommen. Niemals. Und nichts vermissen.
    Endlich lag der letzte Teller auf dem Abtropfsieb, Aldís riss sich die Handschuhe von den Händen, und ein fauliger Gummigeruch stieg auf.
    »Wir müssen neue Handschuhe kaufen. Die hier sind zerrissen«, sagte Aldís.
    Lilja stand immer noch in der Küche, atmete aber nicht mehr in ihren Kragen, sondern untersuchte die Gläser im Küchenschrank auf Flecken. Sie ignorierte ihre Forderung, und anstatt sie noch einmal zu wiederholen, legte Aldís die Handschuhe weg und wünschte gute Nacht. Vielleicht war es besser so, wenn Lilja sie nicht beachtete, konnte sie sich auch keine neue Arbeit mehr für sie ausdenken. Aldís verließ die Küche, holte ihre Jacke und trat hinaus in den Abend.
    Ihr Zimmer befand sich in einem kleinen Haus nur einen Katzensprung vom Hauptgebäude entfernt. Auf dem Hof gab es drei Häuser, ein Stallgebäude und zwei kleine Schuppen, die kurz vorm Einstürzen waren. Die vorherigen Bewohner hatten dort mit ein paar Tieren gehaust, und als Veigar und Lilja den Hof übernahmen, hatten sie zwei Möglichkeiten gehabt: den Betrieb dranzugeben oder ihn auf mehrere Pfeiler zu stellen. Daraus wurde ein Erziehungsheim mit einer kleinen Landwirtschaft. Wobei der Südwesten der Halbinsel Reykjanes mit seinen kleinen Wiesen und seiner ungeschützten, isolierten Lage dafür nicht besonders gut geeignet war. Vielleicht hatten die Errichter des Hofs ursprünglich vorgehabt, die Lavabrocken wegzuschaffen und Felder anzulegen, aber daraus war nicht viel
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