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Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)

Titel: Seelen im Eis: Island-Thriller (German Edition)
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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gemalt:
    Tobbi Jónasson †
    Einar Allen †
    Erst jetzt bemerkte Óðinn den kühlen Luftzug aus dem Abzugsrohr über ihm. Über seine Kopfhaut zog sich eine Gänsehaut, und er knallte den Aktenordner zu. In seiner Box war es nicht so kalt, er würde die Unterlagen besser dort durchschauen. Obwohl er das Blatt nicht mehr vor Augen hatte, sah er die schiefen Kreuze im Geiste deutlich vor sich. Óðinn schüttelte das Unwohlsein ab und quetschte sich aus der Box. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass die Jungen auf dem Foto ihn mit ihren wachsamen Augen anstarrten. Vielleicht weil sie Róbertas Todeskampf mitangesehen hatten, ohne mit der Wimper zu zucken. Vielleicht hatten sie sich sogar gefreut, dass sie zu ihnen kam und sie endlich jemandem erzählen konnten, was damals in Krókur passiert war.

2. Kapitel
    Januar 1974
    Der eine Spülhandschuh hatte ein Loch bekommen. Aldís biss die Zähne zusammen, wollte das schmutzige Wasser nicht wegen der paar Teile, die noch übrig waren, auswechseln. Außerdem hatte sie keine Lust, sich das Gejammer über Luxus und Verschwendung anzuhören. Sie hatte keine Ahnung, was Spülmittel kosteten, aber so wie man sich hier anstellte, hätte es flüssiges Gold sein müssen. Deshalb ging man sparsam damit um, und der Schaum verschwand schon in dem Moment, wenn man das schmutzige Geschirr ins Wasser stellte. Dabei spülte sie nicht nur für ein paar Leute, sondern für sieben Jungen, plus die Mitarbeiter und sie selbst. Wenn das Ehepaar, das das Heim leitete, normal gewesen wäre, hätte es schon längst eine Spülmaschine gekauft. Aber nein, sie musste dankbar sein, wenn sie ein Paar neue Gummihandschuhe bekam.
    »Was trödelst du denn immer so rum?«
    Es war, als hätte allein der Gedanke an das Heimleiterehepaar, Lilja und Veigar, ihre Chefin herbeigelockt. Sie war hinter Aldís geschlichen und atmete in ihren Kragen.
    »Du weißt doch, dass wir einen neuen Jungen erwarten und du noch sein Bett beziehen musst«, meckerte sie.
    »Nein«, entgegnete Aldís, wobei ihr vollkommen klar war, dass ihre Antwort missverstanden würde. Sie schien es darauf anzulegen, sich von der Frau anpflaumen zu lassen.
    »Das habe ich dir doch schon hundertmal gesagt. Wie kannst du das vergessen? Du musst hier ja nun wirklich nicht allzu oft dein Gehirn einschalten.« Der Ton in Liljas Stimme ließ erkennen, dass es ihr Spaß machte, Aldís zurechtzuweisen.
    Aldís blickte im Fenster über dem Spülbecken in ihre eigenen Augen. Der Schnee war bei der ungewöhnlichen Wärme getaut, und seitdem war es trocken geblieben. Draußen war alles schwarz.
    »Ich meinte, sein Bett muss nicht mehr bezogen werden. Das habe ich schon gemacht«, sagte sie. Es blieb still, und sie wusste, dass Lilja keine gute Entgegnung einfiel. »Ich wusste, dass ich es heute Abend nicht mehr schaffen würde. Außerdem ist es besser, das zu machen, während die Jungen draußen sind.«
    Dem neuen Jungen war das obere Etagenbett in einem Zweierzimmer zugewiesen worden, in dem keiner mehr geschlafen hatte, seit sein Vorgänger vor einem Monat gegangen war. Er war extrem ruhig gewesen, und obwohl seine Abreise noch nicht lange zurücklag, konnte sich Aldís unmöglich an sein Aussehen erinnern. Vielleicht hatte er deshalb Ladendiebstähle begehen können, bevor er ins Erziehungsheim gekommen war – in diesem Metier war es zweifellos von Vorteil, unsichtbar zu sein.
    »Na, da hast du ja immerhin mal mitgedacht.«
    Für Lilja war es völlig undenkbar, jemanden zu loben. Wenn sie ganz selten mal ihre Zufriedenheit ausdrückte, klang es genau wie eine Zurechtweisung. In den ersten Wochen nach ihrem Arbeitsbeginn vor einem halben Jahr hatte sich Aldís nicht über die Frau beschweren können, aber in den letzten beiden Monaten war sie richtig mies gelaunt gewesen. Was vielleicht nicht verwunderlich war. Am schlimmsten waren Momente wie dieser, wenn Veigar weggefahren war, was zum Glück nicht oft vorkam. Wie abwegig es auch klingen mochte – Aldís war sich sicher, dass Lilja ihrem Mann nicht vertraute, selbst wenn er nur den neuen Jungen abholte. Sie waren wie füreinander geschaffen: sie verbittert und er aggressiv gegen alles und alle. Welche Frau ließ sich schon mit einem solchen Mann ein? Aldís verstand nicht, warum Lilja sich Sorgen machte, ihr Mann könne sie betrügen, aber das musste mit dem Schock zusammenhängen, den sie erlitten hatte. Vielleicht hatte Veigar nach dem, was passiert war, das Interesse an seiner Frau
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