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Der Windsänger

Titel: Der Windsänger
Autoren: William Nicholson
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Vor langer Zeit 
    Als die Fremden kamen, lebte das Volk der Manth noch in den niedrigen Jurten mit den Mattenwänden, die sie in ihrer Zeit als Jäger mit sich herumgetragen hatten. Die Hüttenzelte mit den gewölbten Dächern umstanden die Salzmine, die Quelle ihres Reichtums werden sollte. Lange würde es noch dauern, bis sie die prächtige Stadt erbaut hatten, die nun über den Salzhöhlen thronte. An einem Nachmittag im Hochsommer war eine Gruppe Reisender aus der Wüste aufgetaucht und hatte in der Nähe ihr Lager aufgeschlagen. Die Fremden trugen das Haar lang und offen, Männer wie Frauen, sie bewegten sich langsam und redeten leise – wenn sie überhaupt redeten. Sie trieben ein wenig Handel mit den Manth, kauften Brot, Fleisch und Salz und bezahlten mit kleinen, selbst gefertigten Schmuckstücken aus Silber. Eigentlich verhielten sie sich ganz friedlich, dennoch empfanden die Manth ihre Nähe als unangenehm. Wer waren sie nur? Woher kamen sie? Und wohin wollten sie? Auf direkte Fragen antworteten sie nicht, sondern lächelten nur, zuckten die Achseln oder schüttelten die Köpfe. 
    Dann sah man die Fremden bei der Arbeit: Sie bauten einen Turm. Langsam nahm ein hölzernes Bauwerk Gestalt an, ein Sockel, größer als ein Mensch. Darauf errichteten sie einen zweiten, schmaleren Turm aus Holzbalken und Metallrohren. Die Rohre waren von unterschiedlicher Länge und aufgereiht wie Orgelpfeifen. Am unteren Ende mündeten die Pfeifen in Trichter aus Metall. Am oberen Ende fügten sie sich zu einem schmalen Zylinder zusammen, einer Art Hals, der sich dann weitete und in einem Ring riesiger Lederkellen seinen Abschluss fand. Wenn der Wind wehte, wurde er von den Kellen aufgefangen und der ganze obere Teil des Turmes drehte sich mit der stärksten Bö. Der Luftstrom wurde durch den Zylinder in die verschiedenen Pfeifen geleitet und kam aus den Trichtern am unteren Ende als Folge zusammenhangloser Töne wieder heraus. 
    Der Turm schien keinem besonderen Zweck zu dienen. Eine Weile war er eine echte Sehenswürdigkeit. Die Manth bestaunten ihn neugierig, während er sich mal in die eine, mal in die andere Richtung drehte. Wenn ein starker Wind wehte, drang ein klagendes Ächzen aus dem Turm, das die Zuhörer zunächst lustig, bald jedoch lästig fanden. 
    Die schweigsamen Fremden boten keinerlei Erklärungen an. Es schien, als wären sie nur in die Siedlung gekommen, um dieses seltsame Bauwerk zu errichten. Denn als es fertig war, rollten sie ihre Zelte zusammen und bereiteten ihre Weiterreise vor. 
    Vor dem Aufbruch holte ihr Anführer einen kleinen silbernen Gegenstand hervor, kletterte auf den Turm und schob ihn in einen Schlitz am Hals des Bauwerks. Die Fremden machten sich an einem ruhigen, windstillen Sommermorgen auf den Weg. Kein Ton drang aus den Metallpfeifen und Trichtern, als sie in die Wüste hinauszogen. Die Manth waren ebenso verblüfft wie bei der Ankunft der Fremden und starrten ratlos auf die übergroße Vogelscheuche, die sie zurückgelassen hatten. 
    In der folgenden Nacht kam Wind auf, während sie schliefen, und ein völlig neues Geräusch trat in ihr Leben. Sie vernahmen es im Schlaf und erwachten lächelnd, ohne jedoch zu wissen, warum. Sie versammelten sich in der warmen Nachtluft und lauschten in Freude und Staunen. 
    Der Windsänger sang. 

1 Die kleine Pinpin setzt ein Zeichen 
    Sagahock! Pompapruhn! Saga-saga-HOCK!« Bowman Hath lag im Bett und hörte seine Mutter nebenan im Bad schimpfen. Von weit her kam der satte Klang der Glocke im Turm des Kaiserpalastes über die Dächer der Stadt: Bang! Bang! Es schlug sechs Uhr, das war die Zeit, zu der ganz Aramanth erwachte. Bowman öffnete die Augen und starrte ins Tageslicht, das durch die orangeroten Gardinen ins Zimmer fiel. Er stellte fest, dass er traurig war. Was ist es diesmal?, fragte er sich selbst. Er dachte an den bevorstehenden Tag in der Schule und wie immer zog sich sein Magen zusammen. Doch heute empfand er noch etwas anderes – eine Art Trauer, wie über einen Verlust. Aber was war verloren gegangen? 
    Seine Zwillingsschwester Kestrel schlief noch im Bett neben ihm. Wenn er den Arm ausstreckte, konnte er sie berühren. Er lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen eine Weile und schickte ihr dann einen Aufwach-Gedanken. Dann wartete er, bis sie zur Antwort missmutig stöhnte. Schließlich zählte er im Stillen bis fünf und wälzte sich aus dem Bett. 
    Auf dem Weg zum Bad ging er über den Flur und blieb stehen, um seine
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