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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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Eine Stimme in meinem Kopf knurrt schadenfroh: «Du bist am Ende, Kleines …» Ich habe den ersten Blackout meines Lebens. Stumm wie ein Fisch sitze ich auf der Fensterbank. Notizen mache ich keine. Ich hole Luft, und mir versagt die Stimme, was nicht schlimm ist, denn ich weiß ohnehin nicht, was ich sagen soll. Ich gebe bestimmt ein erbärmliches Bild, und wie durch dichten Nebel höre ich die Stimme eines der Prüfer. «Ich glaube, wir sind dann jetzt fertig.» Die beiden nicken mir zu; sie wollen sich nun zur Besprechung zurückziehen, ich könne eine Viertelstunde Pause machen.
    Meine Galgenfrist. Ich taumle aus dem Zimmer über den Flur der Intensivstation, vorbei an den aufgeregten Kollegen. «Hey, wie war’s?», und ich kann gar nichts sagen, das Neonlicht blendet, ich will nur raus. Den Tabak für eine Zigarette, die ich unterwegs versuche zu drehen, verstreue ich überall, weil meine Hände zittern. Fast laufe ich gegen die Tür, die nach draußen führt, wo der Giftzwerg sitzt. Ich lasse mich krachend auf einen der Stühle plumpsen, und der Giftzwerg sagt nur lachend «Ach, du Scheiße!», nimmt mich in den Arm, steckt mir eine Zigarette zwischen die Lippen und gibt mir Feuer. Sie drückt mir ihren Kaffee in die Hand und steht auf. «Ich hol mir mal eben einen neuen.» Ich rauche und trinke mechanisch und habe einen entsetzlich dicken Kloß im Hals – ein Blackout! Ich bin eine solche Null. Und dann breche ich in Tränen aus. Als ich wenig später schniefend das Besprechungszimmer betrete, sehe ich aus wie eine Himbeere. Die beiden Prüfer trösten mich mit der Tatsache, dass ich die Prüfung bestanden hätte, allerdings hätten sie hie und da noch Verbesserungsvorschläge. Ihre letzten Sätze rauschen an mir vorbei. Ich will nur noch nach Hause.
    Eine Woche später ist der Star an der Reihe: Sie musste ihren Prüfungspatienten reanimieren, und dann ist er gestorben. Überhaupt erzählen fast alle Geschichten von «schauderhaften Prüfungsverläufen» wie Nervenzusammenbrüchen, eigentlich freundlichen und zugewandten Patienten, die plötzlich sagen «Ich mach nur mit, wenn die beiden Männer da verduften!», Theater mit Geräten und Reanimationen.
    Wenige Tage nach dem Examen und einer rauschenden Party befinden der Star und ich uns auf La Palma. Wir sitzen auf wackeligen Klappstühlchen im Wind, die Beine auf ein steinernes Mäuerchen gelegt, und gucken der wilden Wolkenjagd am Himmel zu, als es plötzlich scheppernd den schrottreifen Grill hinter uns umhaut – und die Asche von etwa zwei Kilo verbrannten Prüfungsunterlagen Richtung Meer wirbelnd davonschwebt.
     
    Das Gefühl «Traumberuf» stellt sich nach einigen Wochen wieder halbwegs ein, weil man mich einfach in Ruhe lässt. Ich bin froh, dass ich meine Patienten versorgen kann, ohne dass regelmäßig jemand zum Kontrollieren kommt und hinterher bemängelt, dass es nicht perfekt gewesen sei. Wie auch? Weder ich noch die Patienten, geschweige denn das ganze System sind es.
    Meine Kolleginnen und Kollegen, denen die Prüfung noch bevorsteht, gehen ganz unterschiedlich mit dem Druck um. Zwei Typen sind auffällig: diejenigen, die wie ich bis in die Grundfesten verunsichert das Gefühl haben, eigentlich gar nichts zu können, und nach jeder Klausur oder Sichtstunde am liebsten alles hinschmeißen wollen, nach den Prüfungen erleichtert ihre Patienten versorgen und sich freuen, dass sie jetzt ihre Ruhe haben.
    Und dann gibt es diejenigen, die sich mit wahrer Begeisterung präzise und pedantisch in das System des «Richtigmachens» assimilieren und nicht müde werden, jedes kleinste Detail auszuleuchten. Nichtsdestotrotz sind sie zum Prüfungszeitpunkt genauso blass und aufgeregt wie alle anderen auch. Mit dem Unterschied, dass sie unbedingt als Beste abschneiden wollen, wohingegen ich zum Beispiel einfach nur froh war, die Prüfung hinter mich zu bringen, ganz gleich, wie sie benotet wird. Mich beruhigte der Gedanke, dass ein mittelmäßiges System auch nur mittelmäßig bewerten kann. Nach etwa einem Jahr habe ich jedoch das Gefühl, dass das nicht alles sein kann: aufstehen, arbeiten, schlafen gehen, und das fast täglich, früh, spät und nachts. Mein Privatleben schrumpft auf ein jämmerliches Maß zusammen. Immer bin es ich, wegen der Termine nicht eingehalten werden können, Konzertbesuche abgesagt werden müssen, auf die ich mich gefreut hatte, und die keinen Film kennt. Nach fünf Nachtdiensten in Folge fällt es mir schwer, überhaupt
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