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Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation

Titel: Schwester! • Mein Leben mit der Intensivstation
Autoren: Katrin Grunwald
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verkneifen wir uns, wohl wissend, dass sich mit einem in Bier eingelegten Gehirn am nächsten Morgen in aller Frühe das mühsam eingetrichterte Wissen schlecht abrufen lässt.
    Aber auch ohne die regelmäßig stattfindenden schriftlichen Leistungskontrollen wird der dauernde Kampf mit der Disziplin zu einem Höllenritt, denn es gibt auch noch die Sichtstunden, in denen jemand von der Fachweiterbildungstätte auf der Station erscheint und zuguckt, wie das neu Erlernte oder das aufgeblähte und bereits Gewusste in die Tat umgesetzt wird. Das bedeutet insbesondere kurz vor der Prüfung Ärger und Stress. Nicht nur, weil die Nerven mittlerweile blank liegen, sondern weil es oft mehr als eine richtige Antwort auf ihre Fragen gibt und die Entscheidung darüber in dem Moment im Ermessen des Prüfers liegt. Es gibt diverse Herangehensweisen, jemanden anzusprechen und zu mobilisieren. Und manchmal ist das auch von der Persönlichkeit der Krankenschwester oder von den Patienten abhängig. Und so geht mir irgendwann gigantisch auf die Nerven, dass man versucht, meine Authentizität zu bewerten.
     
    Ich sitze auf meinem Fahrrad, es ist etwa halb sechs und noch dunkel. Ich bin müde und mir ist elend, weil eine widerliche Grippe im Anmarsch ist. Mit dröhnendem Schädel und kratzendem Hals betrete ich schlecht gelaunt die Umkleide: In einer Stunde kommt der Weisheit unendlicher Quell aus der Schule und wird mir geschlagene drei Stunden auf die Finger gucken, und das ganz genau. Deshalb brauche ich vorher unbedingt noch Zeit, um in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Es herrscht hektische Betriebsamkeit, und ich bin nicht die Einzige, bei der sich die Grippeviren breitgemacht haben, sodass eine beunruhigende Lücke im Dienstplan klafft, die sich in den nächsten Tagen noch auswachsen wird. Pünktlich wie die Maurer erscheint der Prüfer, und wir einigen uns darauf, dass ich heute Morgen Herrn Wuttke versorgen werde. Zur Erinnerung: In der Regel versorge ich zwei Patienten, wenn nicht drei. In der Sichtstunde darf ich mich lediglich um einen Menschen kümmern, sodass alle anderen Patienten von den übrigen Kollegen übernommen werden müssen.
    Herr Wuttke ist 83 Jahre alt und seit mindestens zwei Jahrzehnten Diabetiker, weshalb er mit schweren Durchblutungsstörungen kämpft und sich mit den Folgen einer Bypass- OP quält. Die Narbe am Brustkorb verheilt schlecht, sie ist infiziert und eitrig. Zudem ist Herrn Wuttke vor einigen Jahren der rechte Unterschenkel amputiert worden, und sehen kann er auch so gut wie gar nichts mehr. Der geschwächte arme Mann schafft es nur wenige Stunden, ohne Beatmungsgerät zu atmen, sodass er eine Trachealkanüle bekommen hat, damit er sich nicht länger mit dem Beatmungsschlauch im Mund herumschlagen muss. Und weil Herr Wuttke jede Komplikation mitnimmt, die sich in einem solchen Verlauf anbietet, hat sich selbstredend auch das Tracheostoma infiziert: die Wundränder sind gerötet und eitrig, und es müffelt auch ein wenig. All das merkt Herr Wuttke, der zunehmend frustrierter und lethargischer wird. Dieser anspruchsvolle Patient verlangt meine ganze Aufmerksamkeit, die mit zunehmenden Kopfschmerzen, verstopfter Nase und Kratzhals eingeschränkt ist. Ich erörtere dem Prüfer so detailliert wie möglich die Gründe für Herrn Wuttkes lange Intensivkarriere, um dann die geplanten Pflegemaßnahmen anzukündigen. Die muss ich aber erst mal «schriftlich fixieren», also setze ich mich mit einer Tasse Tee in einen Besprechungsraum und schreibe meine Pflegeplanung. Was kann Herr Wuttke noch, und wo braucht er Unterstützung? Wie kann die aussehen? Wo lauern Tücken und technische Drachensaat?
    Nach etwa einer halben Stunde bin ich fertig, und der Prüfer und ich gehen zu Herrn Wuttke ins Zimmer. Vorsichtshalber binde ich mir einen Mundschutz um, damit sich Herr Wuttke nicht auch noch eine Grippe einfängt. Seit der Übergabe atmet er ohne das Beatmungsgerät und wirkt entspannt. Aber ich muss all meine Überredungskunst aufbringen, damit sich der Mann seine Zähne selbständig putzt. Zuerst muss ich seine Hand noch führen, bis er selbst übernimmt und sich sogar den Mund ausspült, ohne sich zu verschlucken. Zufrieden schwitze ich unter meinem Mundschutz vor mich hin, pulssynchron pocht es in der Nebenhöhle. Der Prüfer lehnt stumm wie ein Fisch am Fensterbrett und macht sich Notizen. Ich scheine den richtigen Ton bei Herrn Wuttke getroffen zu haben – ruhig und von distanzierter Freundlichkeit. Er
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