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Heurigenpassion

Heurigenpassion

Titel: Heurigenpassion
Autoren: Pierre Emme
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    Das letzte, was die junge Frau hörte, ehe sie endgültig das Bewusstsein verlor, waren die machtvollen Schläge der »Pummerin«, die das Neue Jahr einläutete. Sie kamen aus den Rundfunk- und Fernsehgeräten jener Menschen, die den Jahreswechsel zu Hause feierten und ihre Fenster geöffnet hatten, um das bunte Treiben auf der Straße beobachten zu können. Oder auch nur, um etwas von der herrlich frischen, kalten Luft in ihre verrauchten, überheizten und leicht säuerlich riechenden Salons und Wohnzimmer zu holen.
    Zahllose Feuerwerkskörper stiegen unter großem Getöse in den sternklaren Himmel und übertönten die ersten, leisen Töne des traditionellen Donauwalzers.
    Dr. Herbert Thaler, in seiner Funktion als Bezirksvorsteher sozusagen »Bürgermeister von Döbling«, trat aus dem Heurigenlokal, in dem er ausgezeichnet gegessen hatte, und führte seine Frau zum ersten Walzer des jungen Jahres. Die beiden mischten sich unter die auf der Straße tanzende Menge und erwiderten die Neujahrswünsche der Menschen, die das populäre Paar erkannten und ihm ihr »Prosit« zuriefen.
    Thaler war außerordentlich zufrieden. Der erstmals auf seine Initiative hin veranstaltete »Döblinger Silvesterweg« schien ein großer Erfolg geworden zu sein. Auch wenn der »Weg« diesmal nur Grinzing berücksichtigt hatte und zwar vom Pfarrplatz bis zur Feilergasse.
    Nächstes Jahr würden sich auch die Heurigenbetriebe in Nußdorf, Sievering, Salmannsdorf und Neustift   an dieser schönen Idee beteiligen, war der Bezirkskaiser sicher. Mit dem schon traditionellen »Silvesterpfad« in der City würden sie sich auch dann noch nicht ganz messen können, aber für die Leute hier in Döbling war es eine Hetz und für die Wirte ein gutes Geschäft. Ihm selbst hatte dieser Event schon im Vorfeld eine gute Presse gebracht. Heute oder morgen würde noch ein TV-Auftritt in der beliebten Sendung »Klatschspalten« folgen. Thaler konnte also wirklich zufrieden sein.
    Von all dem bekam die junge Frau aber gar nichts mehr mit. Mit schweren Verletzungen und breiten Klebebändern an Armen und Beinen gefesselt lag sie zusammengerollt in einem dieser großen, fahrbaren Müllcontainer. Da auch ihr Mund verklebt und ihre Nase verkühlungsbedingt verstopft war, bekam ihr nur mehr vegetierender Organismus kaum mehr Sauerstoff.
    Sie erstickte still vor sich hin.
    Mit den letzten Takten des Donauwalzers war es soweit. Sie starb so unauffällig, wie sie gelebt hatte.
    Der nun einsetzende Applaus des Publikums auf der Straße hätte ihr wahrscheinlich gefallen. Auch wenn er nicht ihr galt, sondern dem Genius von Johann Strauß’ Sohn. Was für ein Requiem.
    Etwa vier Stunden später wurde der Müllcontainer von einer zur Unkenntlichkeit vermummten Person in Bewegung gesetzt und über die inzwischen menschenleere Straße an eine ganz bestimmte Stelle gebracht. Einen Ort, der der Person nach einigem Nachdenken unter den gegebenen Umständen am Besten dafür geeignet zu sein schien.
    Weitere drei Stunden später begannen die wackeren Männer der städtischen Müllabfuhr damit, die Spuren einer nicht für alle wirklich lustigen Silvesternacht zu beseitigen und Grinzing wieder in einen herzeigbaren Zustand zu versetzen.

     
    * * *

     
    Der Neujahrsmorgen war einer der wenigen, wenn nicht überhaupt der einzige Morgen im Jahr, an dem Palinski länger schlief als bis sieben Uhr. Heute war es gar schon zwanzig Minuten nach acht, als er vorsichtig zuerst das linke und dann das rechte Auge öffnete. Ob er das immer so machte, vermochte er nicht zu sagen. Er hatte den Ablauf des Augenöffnens noch nie zuvor bewusst registriert.
    Der trotz der herrschenden und durch die dunklen Wolken am Himmel noch verstärkten Dämmerung als störend empfundene Lichteinfall ließ ihn unwillkürlich wieder die Augen schließen. So lag er da und lauschte den regelmäßigen, gelegentlich von kleinen Schnarchgeräuschen unterlegten Atemzügen Wilmas. Der Mutter seiner beiden Kinder und Frau, mit der er seit 24 Jahren nicht verheiratet, seit mehr als drei Monaten aber so etwas ähnliches wie verlobt war. Klang ganz schön kompliziert, fand Palinski und war auch ziemlich verrückt. Aber Wilma, die gerade eindrucksvoll unter Beweis stellte, dass Schnarchen keine rein männliche Domäne war, hatte ihm auf seinen Antrag vom September des gerade abgelaufenen Jahres noch keine Antwort gegeben. Er durfte jetzt zwar immer mit ihr schlafen, wenn er wollte, eigentlich sogar öfters. Aber das
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