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- Schwarzspeicher - Du kannst dich nicht verstecken

- Schwarzspeicher - Du kannst dich nicht verstecken

Titel: - Schwarzspeicher - Du kannst dich nicht verstecken
Autoren: Tobias Radloff
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Bildschirm verschwamm vor Mephs Augen. Der Jetlag hatte ihn jetzt voll im Griff. Er resignierte, klappte das Pad zu und legte es so auf seinen Rucksack, dass die Kameralinse weiterhin aus dem Fenster zeigte. Dann ließ er sich ins Polster sinken und sah den Türmen von Schanghai dabei zu, wie sie mit 100 km/h näher kamen und sich dabei sanft gegeneinander verschoben.
    »Auch der Angeklagte, dessen Mordfall in dem Saal verhandelt werden sollte, hieß Li. Der Richter verwechselte die beiden Lis, und der Zeuge sah sich plötzlich des Mordes angeklagt. Die Verhandlung …«
    »Ist das eine dieser Internetlegenden?«, unterbrach Meph ihn mit widerwilligem Interesse. »Man kann zwei Menschen nicht einfach verwechseln. Hatten sie dasselbe Geburtsdatum, die gleichen Fingerabdrücke?«
    »Damit kann man tricksen. Darum haben wir in China eine moderne Möglichkeit der Identifikation entwickelt. Vielleicht haben Sie davon gehört.« Der Fahrer rollte den Ärmel seines T-Shirts hoch und deutete auf seinen Oberarm, auf dem nicht das Geringste zu sehen war. »Jeder Chinese bekommt einen Funkchip unter die Haut gespritzt, wie ein Ausweis, den man nicht verlieren kann. Auf jedem Chip sind der Name und eine persönliche Identifikationsnummer gespeichert. Lokal, meine ich. Wissen Sie, was ich meine?«
    »Natürlich. Was soll die Frage?«
    »Na ja, Sie sagten, Sie sind aus Deutschland.«
    »Ja. Und?«
    »Sie wissen schon – schwarzspeicher .«
    Meph hatte nicht gewusst, dass dieses Wort bereits Eingang in die englische Sprache gefunden hatte. Zwar gab es im Englischen auch angst und weltschmerz . Allerdings existierten diese Worte nicht erst seit drei Jahren.
    »Ich weiß, was lokaler Speicher ist«, sagte er. »Das Gesetz hat uns nicht alle auf einen Schlag dumm gemacht.«
    Der Mann am Lenkrad räusperte sich. »Ich bitte um Entschuldigung. Nun, jedenfalls kann man bei uns jeden Menschen anhand der gespeicherten Informationen auf seinem Chip identifizieren. Doch nicht nur die Namen der beiden Lis, auch ihre ID-Nummern waren identisch, oder zumindest beinahe. Sie unterschieden sich nur an einer Stelle. Als der Richter die Nummer von Lis Chip auslas, glaubte er, der Eintrag in der elektronischen Gerichtsakte sei fehlerhaft. Er korrigierte die Nummer, sodass sie mit der aus Lis Chip übereinstimmte. Dann begann die Verhandlung. Das Urteil war schnell gefällt, denn die neuen Entscheidungsalgorithmen nehmen unseren Richtern viel Arbeit ab. Li wurde zum Tod verurteilt.«
    »Wurde das Urteil an Ort und Stelle vollstreckt?«, warf Meph skeptisch ein. »Sonst hätte der Irrtum früher oder später auffliegen müssen.«
    »Das stimmt. Doch als der wahre Mörder Li in Handschellen ins Gebäude gebracht wurde, rief der Pförtner dessen persönliche Akte auf, um zu überprüfen, in welchem Saal seine Verhandlung stattfand. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Richter die Akte über den Mordfall allerdings schon geändert. Sie müssen wissen, dass bei uns – genau wie bei Ihnen – alle Daten in der Cloud liegen, auf zentralen, von überall zugänglichen Datenspeichern. Als der Täter eintraf, war die Mordanklage schon aus seiner Datei verschwunden. Die Beamten sahen, dass nichts gegen ihn vorlag, und waren gezwungen, ihn freizulassen. Bedauerlich, finden Sie nicht?«
    Meph schwieg.
    »Als die Frau des unschuldigen Li erfuhr, dass ihr Mann in der Todeszelle saß, wandte sie sich an den Richter, ans Fernsehen, sogar an den Gouverneur. Doch niemand konnte ihr helfen. In ihrer Verzweiflung stellte sie eine Videodatei ins Internet, in der sie die Geschichte ihres Mannes erzählte. Der Clip verbreitete sich erst in China, dann auf der ganzen Welt.«
    »Moment, den Clip kenne ich.« Meph fiel eine Videomail ein, die er Anfang des Jahres bekommen hatte und in der eine Chinesin über irgendeine Justizpanne berichtete. Er hatte sie nach ein paar Sekunden weggeklickt. Er hasste Untertitel. »Dann ist die Geschichte wahr?«
    »Natürlich. Das sagte ich doch.«
    »Was geschah dann?«
    »Das Video schlug hohe Wellen. Sogar der Gouverneur sah es. Weil er ein ehrbarer Mann ist, stellte er Li nicht nur eine Begnadigung aus, sondern setzte außerdem durch, dass die Änderung in der Gerichtsakte rückgängig gemacht wurde. Als die Begnadigung eintraf, war der Gefängnisdirektor jedoch unsicher, für wen sie bestimmt war. In der Zwischenzeit hatte man nämlich den anderen Li, der fälschlicherweise freigelassen worden war, wegen eines weiteren Mordes verhaftet, und
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