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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling
Autoren: Bernard Minier
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Wir kontrollieren den Kofferraum und überprüfen die Papiere. Man weiß ja nie.«
    »Hmm-hmm«, äußerte Servaz zweifelnd.
    Er fuhr wieder los, stellte den CD -Player lauter. Die Hörner des Scherzos hallten im Wageninnern wider. Einen kurzen Moment ließ er die Fahrbahn aus den Augen und griff nach dem kalten Kaffee im Becherhalter. Jedes Mal das gleiche Ritual: Er bereitete sich immer gleich vor. Aus Erfahrung wusste er, dass der erste Tag, die erste Stunde eines neuen Ermittlungsverfahrens entscheidend war. Dass man in dieser Zeit hellwach, konzentriert und offen sein musste. Der Kaffee war zum Wachwerden, die Musik für die Konzentration – und um den Kopf leer zu kriegen.
Koffein und Musik
 …
Und heute Tannen und Schnee,
sagte er sich, während er mit einem beginnenden Magenkrampf den Straßenrand betrachtete. Servaz war aus tiefster Seele Städter. Das Gebirge wirkte auf ihn wie feindliches Territorium. Dabei erinnerte er sich, dass das durchaus nicht immer so gewesen war – dass sein Vater ihn als Kind jedes Jahr zum Wandern in diese Berge mitgenommen hatte. Als guter Lehrer erklärte ihm sein Vater die Bäume, die Felsen, die Wolken, und der junge Martin Servaz hörte ihm zu, während seine Mutter die Decke auf der Frühlingswiese ausbreitete und den Picknickkorb öffnete und ihren Mann einen »Schulmeister« und eine »Nervensäge« schimpfte. In jenen idyllischen Tagen herrschte auf der Welt die Unschuld. Während er wieder auf die Straße starrte, fragte sich Servaz, ob der eigentliche Grund, aus dem er nie hierher zurückgekehrt war, nicht damit zusammenhing, dass die Erinnerung an diese Täler unabänderlich mit der Erinnerung an seine Eltern verbunden war.
    Himmel, wann wirst du da oben endlich mal ausmisten?
Dabei war er eine Zeitlang zum Psychoanalytiker gegangen. Doch nach drei Jahren hatte sein Therapeut das Handtuch geworfen: »Tut mir leid, ich wollte Ihnen helfen, aber es geht nicht. Ich habe noch keinen Patienten mit so starkem Widerstand erlebt.« Lächelnd hatte Servaz geantwortet, das mache gar nichts. Im ersten Augenblick hatte er vor allem an die positiven Auswirkungen gedacht, die das Ende der Analyse auf seine Finanzen hätte.
    Er sah sich ein weiteres Mal um. Das war also der Rahmen. Fehlte noch das Bild. Canter hatte behauptet, nichts zu wissen. Und Cathy d’Humières, die Oberstaatsanwältin von Saint-Martin, hatte darauf gedrungen, dass er allein kam.
Weshalb?
Er hatte natürlich geflissentlich verschwiegen, dass ihm das sehr gelegen kam: Er leitete eine siebenköpfige Ermittlungsgruppe, und seine Leute (sechs Männer und eine Frau, um genau zu sein) hatten alle Hände voll zu tun. Am Vortag hatten sie die Ermittlungen in einer Mordsache an einem Obdachlosen abgeschlossen. Dessen blaugeprügelter Leichnam war halb unter Wasser liegend in einem Teich gefunden worden, unweit der Autobahn, auf der er gerade unterwegs war, in der Nähe der Ortschaft Noé. Innerhalb von nur achtundvierzig Stunden hatten sie die Täter dingfest gemacht: Der etwa sechzig Jahre alte Obdachlose war einige Stunden vor seinem Tod in Gesellschaft von drei Jugendlichen aus dem Ort gesehen worden. Der älteste war siebzehn Jahre alt, der jüngste zwölf. Zunächst hatten sie alles abgestritten, aber dann hatten sie doch recht schnell gestanden. Kein Motiv. Und keine Reue. Der Älteste hatte nur gesagt: »Das war doch Abschaum der Gesellschaft, ein Nichtsnutz …« Keiner von ihnen war bei der Polizei oder beim Jugend- oder Sozialamt bekannt. Jugendliche aus gutem Haus. Durchschnittliche schulische Leistungen, kein schlechter Umgang. Ihre Abgestumpftheit hatte allen, die an den Ermittlungen beteiligt waren, das Blut in den Adern gefrieren gelassen. Servaz erinnerte sich noch gut an ihre pausbäckigen Gesichter, ihre großen, klaren und aufmerksamen Augen, die ihn ohne Furcht, ja sogar herausfordernd anstarrten. Er hatte versucht herauszufinden, wer von ihnen die anderen aufgestachelt hatte, denn bei einem derartigen Verbrechen gab es immer einen Rädelsführer. Und er glaubte, ihn gefunden zu haben. Es war nicht der Älteste, sondern der Mittlere.
Ein Junge, der paradoxerweise den Namen Clément trug, vom lateinischen »clemens« – Milde.
    »Wer hat uns hingehängt?«, hatte der Junge in Gegenwart seines bestürzten Anwalts gefragt, dem er, wie es sein Recht war, zuvor jedes Gespräch verweigert hatte, mit der Begründung, sein Anwalt sei »durchgeknallt«.
    »Die Fragen stelle hier ich«, hatte der
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