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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling
Autoren: Bernard Minier
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Motors.
    »Eine einsame Gegend«, sagte sie laut zu sich selbst, um sich Mut zu machen.
    Im Grau dieses Wintermorgens fuhr sie vorsichtig. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer spießten die Stämme der Tannen und Buchen auf. Eine Stromleitung folgte der Straße; Äste stützten sich darauf, als hätten sie nicht mehr die Kraft, sich selbst zu tragen. Manchmal wich der Wald vor verschlossenen, aufgegebenen Scheunen mit moosbedeckten Schieferdächern zurück.
    Etwas weiter weg, hinter einer Kurve, sah sie kurz ein paar Gebäude. Nach der Kurve tauchten sie wieder auf. Mehrere Beton- und Holzhäuser direkt am Waldsaum, mit großen Fensterfronten im Erdgeschoss. Von der Straße ging ein Weg ab, der den Wildbach auf einer Eisenbrücke überquerte und durch eine verschneite Wiese bis zu der Anlage führte. Die baufällig wirkenden Gebäude schienen verlassen. Ohne dass sie begriff, wieso, jagten ihr diese leeren Häuser, die so tief in diesem Tal wie verloren wirkten, einen kalten Schauer über den Rücken.
     
    » COLONIE DE VACANCES DES ISARDS «
     
    Das Schild am Anfang des Weges war verrostet. Noch immer keine Spur von der Klinik. Nicht das kleinste Hinweisschild. Ganz offensichtlich strebte das Institut Wargnier nicht nach Publicity. Diane fragte sich schon, ob sie sich vielleicht verfahren hatte. Die Landkarte im Maßstab 1 : 25 000 lag aufgefaltet auf dem Beifahrersitz. Einen Kilometer und etwa zehn Kurven weiter erblickte sie einen Parkplatz, der von einer steinernen Brüstung gesäumt war. Sie bremste und riss das Lenkrad herum. Der Lancia holperte durch die Pfützen und spritzte dabei wieder Schneematsch hoch. Sie griff nach der Landkarte und stieg aus. Auf der Stelle umhüllte sie die Feuchtigkeit wie ein eiskaltes Leintuch.
    Trotz des Schneegestöbers faltete sie die Karte auf. Die Gebäude der Ferienkolonie, an denen sie gerade vorbeigefahren war, waren mit drei kleinen Rechtecken markiert. Sie schätzte die Entfernung ab, die sie zurückgelegt hatte, indem sie der gewundenen Linie der Landstraße folgte. Ein Stück weiter waren noch zwei Rechtecke eingezeichnet, die gemeinsam ein T bildeten, und obwohl sich keinerlei Hinweis auf die Natur der Gebäude fand, konnte es sich kaum um etwas anderes handeln, denn die Straße hörte dort auf, und es gab auf der Karte kein weiteres Symbol.
    Sie war ganz nah …
    Sie drehte sich um, stapfte zu der niedrigen Mauer –
und da waren sie.
    Ein Stück flussaufwärts, am anderen Ufer, hoch am Hang: zwei langgestreckte Gebäude aus behauenen Steinen. Trotz der Entfernung erahnte sie ihre Größe. Eine monumentale Architektur. Der gleiche Gigantismus, auf den man im Gebirge immer wieder stieß, bei den Kraftwerken wie bei den Staudämmen und den Hotels aus dem letzten Jahrhundert. Genau das war diese Gegend: die Höhle des Zyklopen.
Sieht man einmal davon ab, dass in dieser Höhle nicht ein Polyphem hockte, sondern mehrere.
    Diane war niemand, der sich leicht beeindrucken ließ. Sie hatte Gegenden bereist, die Touristen eigentlich meiden sollten, sie praktizierte seit früher Jugend Sportarten, die mit gewissen Risiken verbunden waren: Als Kind wie als Erwachsene war sie immer wagemutig gewesen. Aber irgendetwas an diesem Anblick rief ein flaues Gefühl in ihrem Magen hervor. Es ging nicht um das physische Risiko, nein. Es war etwas anderes …
der Sprung ins kalte Wasser …
    Sie nahm ihr Handy heraus und wählte eine Nummer. Sie wusste nicht, ob sie hier überhaupt Netz hatte, aber nach dreimaligem Läuten antwortete ihr eine vertraute Stimme.
    »Spitzner.«
    Gleich fühlte sie sich erleichtert. Die warme, feste und gelassene Stimme hatte sie immer beruhigt, ihre Zweifel verjagt. Es war Pierre Spitzner, ihr Mentor an der Uni, der ihr Interesse an der Rechtspsychologie geweckt hatte. Sein Kompaktseminar SOCRATES über die Rechte von Kindern unter der Schirmherrschaft des europäischen Universitätsnetzwerks »Children’s Rights« hatte sie diesem diskreten, attraktiven Mann nähergebracht, der ein liebevoller Ehemann und Vater von sieben Kindern war. Der bekannte Psychologe hatte sie in der Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften unter seine Fittiche genommen; so war aus der Puppe ein hübscher Falter geschlüpft – auch wenn dieses Bild Spitzners anspruchsvollem Intellekt zu abgeschmackt erschienen wäre.
    »Diane hier. Stör ich dich?«
    »Natürlich nicht! Wie läuft’s denn so?«
    »Ich bin noch nicht da … Ich bin noch unterwegs … Ich sehe die
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