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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling
Autoren: Bernard Minier
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Klinik von da, wo ich gerade stehe …«
    »Stimmt irgendetwas nicht?«
    Verflixt! Selbst am Telefon bemerkte er die leiseste Veränderung ihrer Stimme.
    »Nein, alles in Ordnung. Es ist nur … sie wollten diese Typen von der Außenwelt isolieren. Sie haben sie an dem abgelegensten und trostlosesten Ort, den sie finden konnten, eingesperrt. Wenn ich dieses Tal anschaue, bekomme ich eine Gänsehaut …«
    Im nächsten Moment bereute sie, dass sie das gesagt hatte. Sie benahm sich wie ein pubertierendes Mädchen, das zum ersten Mal sich selbst überlassen war – oder auch wie eine frustrierte Studentin, die in ihren Doktorvater verliebt ist und alles daransetzt, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Bestimmt fragte er sich jetzt, wie sie nur durchhalten wollte, wenn sie schon der Anblick der Gebäude so verschreckte.
    »Kopf hoch«, sagte er. »Du hast doch schon jede Menge Sexualstraftäter, Paranoide und Schizophrene erlebt! Das wird dort genau das Gleiche sein.«
    »Aber das waren nicht alles Mörder. Eigentlich nur ein Einziger.«
    Unwillkürlich sah sie ihn wieder vor sich: schmales Gesicht, honigfarbene Augen, die sie mit der Gier des Triebtäters anstarrten. Kurtz war ein echter Soziopath. Der Einzige, dem sie je begegnet war. Kalt, manipulativ, labil. Vollkommen skrupellos. Er hatte drei verheiratete Frauen vergewaltigt und umgebracht – die jüngste war sechsundvierzig Jahre alt gewesen, die älteste fünfundsiebzig Jahre. Das war sein Ding: reife Frauen. Außerdem Stricke, Bänder, Knebel, Schlingen … Jedes Mal, wenn sie sich bemühte,
nicht
an ihn zu denken, nistete er sich geradezu in ihre Gedanken ein – mit seinem zweideutigen Lächeln und seinem Raubtierblick. Das erinnerte sie an das Schild, das Spitzner an der Tür zu seinem Büro im ersten Stock des Psychologischen Instituts der Universität befestigt hatte: » DENKEN SIE NICHT AN EINEN ELEFANTEN «.
    »Es ist ein bisschen spät, um sich solche Fragen zu stellen, Diane, findest du nicht?«
    Das Blut stieg ihr in die Wangen.
    »Du packst das, da bin ich mir sicher. Du bist die Traumbesetzung für diese Stelle. Ich sage nicht, dass es leicht sein wird, aber du schaffst das, glaub mir.«
    »Du hast recht«, antwortete sie. »Ich verhalte mich lächerlich.«
    »Nicht doch! Jeder würde an deiner Stelle genauso reagieren. Ich weiß, was für einen Ruf diese Klinik hat. Aber lass dich davon nicht stören. Konzentrier dich auf deine Arbeit. Und wenn du zu uns zurückkommst, bist du die beste Spezialistin für psychopathische Störungen in der ganzen Schweiz. Ich muss jetzt Schluss machen. Der Dekan erwartet mich, es geht ums Geld. Du weißt, wie er ist: Ich werde mein ganzes Geschick brauchen. Viel Glück, Diane. Halt mich auf dem Laufenden.«
    Besetztzeichen. Er hatte aufgelegt.
    Stille – gestört nur vom Brausen des Wildbachs. Es legte sich auf sie wie eine nasse Plane. Das dumpfe Klatschen eines mächtigen Schneebrockens, der sich von einem Ast löste, ließ sie zusammenfahren. Sie steckte das Handy in die Tasche ihres Daunenmantels, faltete die Karte zusammen und stieg wieder ins Auto.
    Sie stieß zurück und verließ den Parkplatz.
    Ein Tunnel. Das Licht der Scheinwerfer wurde von den tropfnassen schwarzen Seitenwänden zurückgeworfen. Keine Beleuchtung, eine Kurve am Ausgang. Zu ihrer Linken überspannte eine kleine Brücke den Gebirgsbach. Und dann endlich das erste Schild, das an einer weißen Schranke befestigt war: » INSTITUT FÜR FORENSISCHE PSYCHIATRIE CHARLES WARGNIER «. Sie bog langsam ab und überquerte die Brücke. Der Weg stieg plötzlich steil an und schlängelte sich durch Tannen und Schneeverwehungen – sie befürchtete, ihre alte Karre würde gleich über den vereisten Hang rutschen. Sie hatte weder Schneeketten noch Winterreifen. Aber schon bald war der Weg weniger abschüssig.
    Eine letzte Kurve, und da waren sie, ganz nah.
    Sie sank auf ihrem Sitz zusammen, als die Gebäude ihr durch den Schnee, den Nebel und die Wälder entgegenkamen.
    11 : 15  Uhr, Mittwoch, der 10 . Dezember.

2
    S chneebedeckte Tannenwipfel. Von oben gesehen, aus einer senkrechten, schwindelerregenden Perspektive. Das Band der Straße, das geradlinig und schwarz zwischen denselben nebelverhangenen Tannen verläuft. Die Wipfel rasen wie im Zeitraffer vorbei. Da, tief im Wald, zwischen den Bäumen, fährt ein Jeep Cherokee, käfergroß, am Fuß hoch aufragender Nadelbäume. Seine Scheinwerfer durchdringen die wogenden Dunstschwaden. Der
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