Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling
Autoren: Bernard Minier
Vom Netzwerk:
Schneepflug hat an den Seiten hohe Schneewälle aufgetürmt. Jenseits davon versperren weiße Berge den Horizont. Unvermittelt hört der Wald auf. Ein felsiger Steilhang, um den die Straße eine enge Kurve beschreibt, ehe sie an einem schnell strömenden Fluss entlangführt. Der Fluss durchbricht ein kleines Stauwehr, das von brodelndem Wasser überspült wird. Am anderen Ufer öffnet sich im nackten Fels der schwarze Schlund eines Wasserkraftwerks. Auf dem Randstreifen ein Schild:
    » SAINT - MARTIN - DE - COMMINGES : LAND DES BÄREN  – 7  km«.
    Im Vorüberfahren betrachtete Servaz das Schild.
    Ein Pyrenäen-Bär, gemalt vor einem Hintergrund aus Bergen und Tannen.
    Von wegen Pyrenäen-Bär! Slowenische Bären, denen die Schäfer der Gegend nur allzu gern das Fell über die Ohren gezogen hätten.
    Ihrer Meinung nach kamen diese Bären menschlichen Siedlungen zu nahe, wüteten unter den Herden, wurden sogar für den Menschen zu einer Gefahr. Die einzige Spezies, die dem Menschen gefährlich wird, ist der Mensch selbst, dachte Servaz. Im Leichenschauhaus von Toulouse bekam er Jahr für Jahr neue Leichen zu Gesicht. Und sie waren nicht von Bären getötet worden.
Sapiens nihil affirmat quod non probet.
»Der Weise behauptet nichts, was er nicht beweist«, sagte er sich. Er bremste ab, als die Straße eine Kurve machte und erneut in den Wald eintauchte – aber diesmal waren es keine hohen Nadelbäume, sondern eher ein krauses Unterholz voller Dornengestrüpp. Ganz in der Nähe summte das Wasser des Wildbachs. Er hörte das Geräusch, weil er trotz der Kälte das Fenster einen Spaltbreit geöffnet hatte. Dieser kristalline Gesang übertönte fast die Musik aus dem CD -Player: die Fünfte Symphonie von Gustav Mahler, das Allegro. Eine Musik voller dunkler Angst und fieberhafter Erregung, die haargenau zu dem passte, was ihn erwartete.
    Plötzlich, vor ihm: das Blinken von Blaulichtern und Silhouetten mitten auf der Straße, die ihre Stablampen schwangen.
    Eine Straßensperre …
    Wenn die Gendarmerie nicht wusste, wo sie mit ihren Ermittlungen ansetzen sollte, sperrte sie Straßen. Er erinnerte sich an die Worte von Antoine Canter, der am Morgen in der Kriminalpolizeidirektion von Toulouse zu ihm gesagt hatte:
    »Es ist gestern Nacht in den Pyrenäen passiert. Ein paar Kilometer von Saint-Martin-de-Comminges entfernt. Cathy d’Humières hat angerufen. Du hast doch schon mit ihr gearbeitet, oder?«
    Canter war ein Hüne, der den harten Akzent des Südwestens sprach, ein ehemaliger Rugbyspieler, der sich wenig um Regeln scherte und seine Gegner im Gedränge gern mal hart rannahm, ein Polizist, der sich von ganz unten bis zum stellvertretenden Direktor der örtlichen Kripo heraufgearbeitet hatte. Die Pockennarben an seinen Wangen glichen den kleinen Kratern, die Regentropfen auf Sand hinterlassen, seine großen Echsenaugen belauerten Servaz. »
Es
ist passiert? Was ist passiert?«, hatte er ihn gefragt. Canters Mund, in dessen Winkeln weißliche Ablagerungen klebten, hatte sich ein wenig geöffnet: »Keine Ahnung.« Verdutzt hatte Servaz ihn angestarrt: »Wie das?« – »Sie wollte mir am Telefon nichts sagen, nur, dass sie dich erwartet und größtmögliche Diskretion wünscht.« – »Und das war’s?« – »Ja.« Servaz hatte seinen Chef verwirrt angesehen. »Ist in Saint-Martin nicht diese Anstalt?« – »Ja, das Institut Wargnier«, hatte Canter bestätigt, »eine psychiatrische Einrichtung, die in Frankreich, ja in Europa einzigartig ist. Sie verwahren da Mörder, die die Justiz für verrückt erklärt hat.«
    Ein ausgebrochener Insasse, der auf der Flucht ein Verbrechen begangen hatte? Das hätte die Straßensperren erklärt. Servaz bremste. Er erkannte unter den Waffen der Gendarmen Maschinenpistolen vom Typ MAT 49 und die Pumpgun Browning BPS - SP . Er ließ die Scheibe herunter. Dutzende von Schneeflocken schwirrten durch die eisige Luft. Der Polizist hielt dem Beamten seinen Dienstausweis vor die Nase.
    »Wo ist es?«
    »Sie müssen rauf zum Wasserkraftwerk.« Der Mann sprach lauter, um das Knistern der Funkgeräte zu übertönen; sein Atem kondensierte zu weißem Dunst. »Etwa zehn Kilometer von hier im Gebirge. Im ersten Kreisverkehr am Eingang von Saint-Martin biegen Sie rechts ab. Im nächsten Kreisverkehr fahren Sie wieder rechts, Richtung ›Lac d’Astau‹. Dann müssen Sie nur noch der Straße folgen.«
    »Wer hat diese Straßensperren veranlasst?«
    »Die Staatsanwältin. Reine Routine.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher