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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling
Autoren: Bernard Minier
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bestanden. Das Stadtzentrum mit seinem Gassengewirr breitete sich am Fuß des höchsten Berges hier aus. Auf den von Tannen bedeckten Hängen zog eine Doppelreihe von Kabinenbahnen eine vertikale Bruchlinie in den Wald.
    Der Nebel und die Schneeflocken erzeugten eine Distanz zwischen der Stadt und ihm, die die Details ausradierte – und er sagte sich, dass sich Saint-Martin nicht ohne weiteres öffnen würde, dass es eine Stadt war, der man sich von der Seite und nicht frontal nähern musste.
    Er stieg wieder in seinen Jeep, die Straße führte weiter bergauf. Man sah, wie üppig hier im Sommer alles wuchs: Die Überfülle an Gras, Hecken und Moosen konnte selbst der Schnee im Winter nicht überdecken. Und überall hörte man die Geräusche von fließendem Wasser: Quellen, Wildbäche und Rinnsale … Mit heruntergelassenem Fenster durchquerte er ein oder zwei Dörfer, wo die Hälfte der Häuser unbewohnt zu sein schien. Ein weiteres Schild: » WASSERKRAFTWERK , 4  km«.
    Die Tannen verschwanden. Der Nebel ebenfalls. Keinerlei Vegetation mehr, nur noch mannshohe Eiswände am Straßenrand und ein gleißendes Nordlicht. Er schaltete den Cherokee in den Glatteis-Gang.
    Schließlich tauchte das Kraftwerk auf, das im typischen Baustil des Industriezeitalters errichtet worden war: ein gigantisches Gebäude aus Quadersteinen mit hohen, schmalen Fenstern, gekrönt von einem großen Schieferdach, auf dem mächtig der Schnee lastete. Dahinter setzten drei riesige Röhren zum Sturm auf den Berg an. Auf dem Parkplatz waren viele Menschen. Fahrzeuge, Männer in Uniform – und Journalisten. Ein Übertragungswagen des regionalen Fernsehsenders mit einer großen Parabolantenne auf dem Dach und mehrere Zivilfahrzeuge der Polizei. Hinter den Windschutzscheiben erkannte Servaz Presseabzeichen. Außerdem standen dort ein Landrover, drei Peugeot 306 Kombi und drei Transit-Kastenwagen, alle in den Farben der Gendarmerie, sowie ein Kastenwagen mit Hochdach, in dem er den Laborwagen der Spurensicherung von der Gendarmerie Pau erkannte. Auf der Landestelle wartete außerdem ein Hubschrauber.
    Bevor er ausstieg, betrachtete er sich kurz im Rückspiegel. Er hatte Schatten unter den Augen und leicht eingefallene Wangen, wie immer – er sah so aus wie jemand, der die ganze Nacht durchgefeiert hatte, was aber nicht der Fall gewesen war –, aber er sagte sich auch, dass ihn niemand schon auf vierzig schätzen würde. Mit den Fingern fuhr er sich notdürftig durch das dichte braune Haar, rieb sich den Zweitagebart, um wach zu werden, und zog seine Hose hoch. Herrgott noch mal, er war noch dünner geworden!
    Einige Flocken strichen zärtlich über seine Wangen, aber das war nichts im Vergleich zu dem dichten Schneetreiben im Tal. Es war sehr kalt. Er hätte sich wärmer anziehen sollen, sagte er sich. Die Journalisten, die Kameras und die Mikrophone richteten sich auf ihn – aber niemand erkannte ihn, und ihre Neugierde legte sich gleich wieder. Er ging auf das Gebäude zu, stieg drei Stufen hinauf und zeigte seinen Dienstausweis vor.
    »Servaz!«
    In der Halle dröhnte seine Stimme wie eine Schneekanone. Er wandte sich der Gestalt zu, die auf ihn zukam. Eine hochgewachsene, schlanke Frau um die fünfzig, die elegant gekleidet war. Sie hatte blondgefärbtes Haar und trug einen Alpakamantel, über den sie einen Schal geworfen hatte. Catherine d’Humières hatte sich persönlich vor Ort begeben, statt einen ihrer Stellvertreter zu schicken: Ein Adrenalinstoß durchfuhr Servaz.
    Ihr Profil und ihre funkelnden Augen verliehen ihr etwas Raubvogelartiges. Leute, die sie nicht kannten, fühlten sich von ihr eingeschüchtert. Leute, die sie kannten, ebenfalls. Jemand hatte einmal zu Servaz gesagt, ihre
Spaghetti alla puttanesca
seien köstlich. Servaz fragte sich, welche Zutaten sie dafür verwendete. Menschenblut? Sie gab ihm kurz die Hand – ein kalter, kräftiger Händedruck wie von einem Mann.
    »Was für ein Sternzeichen sind Sie gleich noch, Martin?«
    Servaz lächelte. Schon bei ihrer ersten Begegnung, als er gerade seinen Dienst bei der Mordkommission in Toulouse angetreten hatte und sie noch eine einfache Staatsanwältin unter anderen war, hatte sie ihm diese Frage gestellt.
    »Steinbock.«
    Sie tat so, als würde sie sein Lächeln nicht bemerken.
    »Das erklärt Ihr besonnenes, kontrolliertes und gelassenes Naturell, nicht wahr?« Sie musterte ihn eingehend. »Wir werden sehen, ob Sie danach immer noch so kontrolliert und gelassen
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