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Natascha

Natascha

Titel: Natascha
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Luka stand in der Seitenkulisse und starrte mißmutig auf die große Bühne. Einen Frack trug er, zum erstenmal in seinem Leben, und er hatte sich dagegen gesträubt wie ein junger Hengst gegen das erste Halfter. »Muß es sein, Täubchen?« hatte er schließlich gejammert und die Hände gerungen, die aussahen wie Bärentatzen, aber nicht wie die Hände eines normalen Christenmenschen. Behaart waren sie wie der ganze mächtige Kerl, dieser Turm aus Fleisch und Knochen, unter dem die Dielen zitterten, wenn er auftrat.
    Ja, so war's. Luka war mißmutig. Der steife Kragen drückte auf den Kehlkopf, die weiße Schleife verrutschte bei jedem Atemzug, und richtig zu atmen wagte Luka auch nicht, denn dann krachte die steif gestärkte Frackhemdbrust und schien auseinanderzuplatzen. Zum Teufel war's schon mit dem Vornehmsein. Und was das Allerschlimmste war … er hatte sich rasieren müssen! »Luka!« hatte das Täubchen gesagt. »Wir sind jetzt in Paris, in einer freien Welt. Da gibt es keine Taiga und keine Füchse, die man wochenlang durch den Schnee verfolgt. Verstehst du? Also sei anders und rasiere dich …«
    Der Coiffeur, auf dessen Sessel sich Luka klemmte, bedauerte, keinen Fotografen zur Hand zu haben. Es hätte ein wundervolles Reklamebild gegeben … vorher – nachher … aus einem Tier wird durch eine fachgerechte Rasur ein Mensch …
    Nur Luka sah es nicht ein. Er starrte nach der Rasur in den großen Spiegel, zeigte mit beiden Händen auf das Spiegelbild und fragte donnernd: »Wer ist's?! Ich? So sehe ich aus? Man sollte euch alle in die Hölle jagen!«
    Nun war es soweit. Er stand auf der Bühne, hinter einer ägyptischen Säule aus Pappe, Sperrholz und bemalter Leinwand, und vor ihm auf der Bühne stand Natascha Tschugunowa und sang die ›Aida‹. Rechts von ihm gähnte ein riesiger, dunkler, ovaler Raum. Dort sitzen 1.500 Menschen. Verdammt, dachte Luka und kratzte sich den Kopf. Sie alle hören jetzt dem Täubchen zu. O ja, singen kann sie. Wie ein Vögelchen, das zum erstenmal nach einem langen Winter in den blauen Frühlingshimmel flattert. Wie eine Lerche über den Rosenfeldern. Gut, gut … wie sagte doch der Gesanglehrer Waleri Tumanow aus Moskau, dieser kleine, dicke, immer schwitzende Waleri, der plötzlich in der Lubjanka erschossen wurde, weil er immer noch glaubte, Stalin sei ein großer Mann gewesen: »Wenn du hinaus in die Welt gehst, Natascha, wird es niemanden geben, der nicht vor deiner Stimme auf den Knien liegt. Du singst nicht … du betest mit deiner Stimme …«
    Ungeheuerlich war das! Luka hatte es erst als eine Beleidigung aufgefaßt. Was hatte Gott mit Nataschas Stimme zu schaffen? Es war eine echte, sowjetische, proletarische Stimme, die Stimme eines Mädchens aus Krassnoje Mowona, wißt ihr, jener großen Sowchose bei Tatarssk an der Gorodnja, südlich von Smolensk. Jawohl … und nun hatte dieser kleine Teufel, dieses schwitzende Stinkbeutelchen Waleri Tumanow doch recht behalten. Die Leute waren still wie in einer Kirche, wenn Natascha sang, und wenn sie aufhörte, tobten sie wie bei der Feier der Oktoberrevolution. Nur glücklicher sahen sie dabei aus, mit leuchtenderen Augen und mit einem Gesicht, das in Entzückung zerfloß. Überall war es so … in Moskau, in Leningrad, in Charkow, in Tiflis, in Ulan Bator, und dann in London, New York, Rio de Janeiro, Colón, Berlin, München, Rom, Mailand, Budapest … eigentlich überall, wo ein großes Opernhaus stand. Und nun in Paris.
    Luka kratzte sich wieder den dicken Schädel. Paris war schön, aber er liebte es nicht. Es war die erste Stadt, in der er einen Frack tragen mußte. So etwas hemmt die Liebe und trübt den gefälligen Blick.
    Der Regisseur trat neben Luka und sah auf die Bühne. Er hatte ein glückliches Gesicht, seine Augen glänzten.
    »Welche Stimme …«, sagte er zu Luka. »Und diese Seele –«
    »Mütterchen Rußland ist's, Genosse …«, brummte Luka. Der Regisseur zuckte zusammen, als habe man ihn gegen das Schienbein getreten. Er starrte zu dem menschlichen Koloß hinauf und beeilte sich, von ihm wegzukommen. Beim Inspizienten setzte er sich auf einen geflochtenen Hocker.
    »Diese Russen«, sagte er leise hinter der vorgehaltenen Hand. »Ich bekomme immer eine Gänsehaut …«
    Auf der Bühne stand Natascha Tschugunowa allein inmitten der Tempelsäulen. Pierre Simou, der Tenor, hatte sich als Radames verabschiedet und war zur anderen Seitenkulisse hinausgelaufen. Nun hob Natascha langsam beide Arme, flehend
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