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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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dieser Arme muß sich trotz aller dem Poverello di Dio erwiesenen andächtigen Entzückung der Kunst der Kleinplastik zuwenden, wenn er die festlichen Stunden seines Lebens menschenwürdig zu gestalten wünscht.
    Denn alle Autoren stimmen darin überein, daß die Armen in niedrigen und rohen Existenzverhältnissen leben müssen.
    Ist es möglich, die Kunst der Kleinplastik schulmäßig zu erlernen? Vielleicht in der Theorie – die Ausführung jedoch bleibt das ureigene Geheimnis des Künstlers. Die handwerklichen Regeln einer Kleinplastik der Armut kann man so wenig in allgemeine Lehrsätze – gewissermaßen als einen Katechismus – zusammenfassen, wie es stets ein unfruchtbarer Versuch bleiben wird, die Liebesmöglichkeiten in ein System zu zwängen. Hier, wie in der Liebe, hängt alles vom Erfassen der plötzlich auftauchenden Gelegenheiten ab.
    Der arme Lebenskünstler lebt in einem stetigen, stillen Trancezustand und hat es seit langem aufgegeben, aus seinem Leben ein ununterbrochenes heidnisches Freudenfest mit Blumen, Musik und Glückseligkeit machen zu wollen. Vielleicht wäre auch ein Leben mit dauernder Musik und Glückseligkeit unerträglich. Er beschränkt sich also darauf, bei jeder kleinsten Gelegenheit eine festliche Stimmung herbeizuzaubern.
    Wenn er unter zehn Regiezigaretten eine einzige findet, die schon trocken und fest genug gestopft ist, so beginnt er sofort seine Kleinplastik. Er steckt mit fein tastenden Fingerspitzen die Zigarette in den Mund, und wie er sie anzündet, wie er den lauen, bitteren Rauch des ersten Zugs tief und mit geschlossenen Augen inhaliert, wie er ihn dann durch den halboffenen Mund wieder ausatmet, wie er den Rauchwölkchen nachblickt, wie er mit Gaumen und Auge diesen Moment prüfend genießt, gleicht er einem ägyptischen Zigarettensachverständigen, der sich anschickt, über eine besonders edle Tabaksorte ein Urteil zu fällen, gegen das es keine Berufung gibt. Wie er aus der Zigarette ein kleines Fest, eine Kleinplastik macht, so trinkt er auch mit kleinen Schlückchen und zeremonieller Hingabe ein Glas Wasser; er öffnet den Hahn der Wasserleitung in der Küche mit der Bewegung eines fast verdursteten Beduinen, der in der Sahara eine Oase mit einer Quelle findet. Gibt es überhaupt ein herrlicheres Geschenk als einen reinen kalten Schluck Wasser? – diese Frage spiegelt sich in seinem ekstatischen Gesichtsausdruck wider, wenn er das Glas zum Mund führt. Sich ans Fenster stellen und die millionenmal gesehene graue Straße mit einem Blick zu bewundern, als sähe man zum erstenmal London oder die Pyramiden von Giseh – auch dies ist Kleinplastik.
    Den Geschmack, die Form, den Zusammenhang der Dinge ohne Erinnerungen mit der Unvoreingenommenheit eines Neugeborenen zu erkennen und gleichzeitig so erfahren zu sein wie der routinierteste Lebenskünstler, der nur mehr auf die primitivsten, rohen und gesunden Einwirkungen reagiert: das ist Kleinplastik.
    In der Lebenskunst der Armen offenbart sich eine Art von sittlichem Verlangen, mit dem die großen schaffenden Künstler die Eindrücke der Welt in sich aufnehmen. Wenn der arme Lebenskünstler mit Kleinplastik arbeitet, so geht er mit dem größten Ernst an sein Werk heran, sieht ein Blatt oder eine Frucht, einen neuen Bogen Fließpapier, das Lächeln eines Menschen in der Gesamtheit der Erscheinung und dennoch für sich, losgelöst und herausgehoben aus dem unbegreiflichen Chaos der Welt, mit einer der Wahrheit gebührenden intuitiven Andacht. Aus der zerfließenden trüben Substanz der Existenz destilliert er nur einige Tröpfchen heraus; aber diese wenigen Tröpfchen genießt er sodann mit allen seinen Sinnen.
    Sich intensiv und ernsthaft mit einem Menschen zu beschäftigen gehört auch zur Kunst der Kleinplastik; zu dieser Kunst sind meist nur jene edlen Armen fähig, die man später, eben darum, heiliggesprochen hat. Die meisten Armen leben mit ihren Familien oder mit Tieren, wenn es ihnen jedoch freisteht, am liebsten allein. Dinge, die die Welt fallen läßt, heben sie auf, nehmen sie mit nach Hause und betrachten sie.
    Wie die Kinder mit einem Stück Holz spielen, das sich abwechselnd je nach Lage und Stellung in ihrer Phantasie in eine Eisenbahn, eine Figur oder ein Flugzeug verwandelt, so hantiert, dreht und schiebt der Arme in seiner Einbildung die Abfälle der Welt, einen Scherben, eine Vogelfeder, eine alte Zeitung, einen Knopf oder einen wertlos gewordenen Pfandschein. All dies erfüllt sein Herz mit
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