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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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ältere Franzosen in Gesellschaft von Frauen das Mittagessen in Chambres séparées einnahmen, während sie abends im öffentlichen Lokal an ihrer Seite erschienen. Diese Beobachtung empfehle ich den Armen ausdrücklich.
    Es ist auffallend, daß die Armen, ohne Rücksicht auf das Klima, überall viel trinken. Die großen Vorteile des Genusses geistiger Getränke brauchen wir vor den Armen nicht zu preisen. Die Reichen trinken unverhältnismäßig weniger als die Armen und konsumieren Alkohol in größeren Mengen nur dann, wenn sie sehr unglücklich sind. Die Armen dagegen trinken sozusagen ununterbrochen. Viele haben es sich zur Regel gemacht, dauernd berauscht zu sein, und variieren den Grad ihrer Betrunkenheit nur gemäß ihrer Arbeitszeit.
    Natürlich trinken die Armen nicht zum Vergnügen, sondern um ihre Verzweiflung zu betäuben, doch hat diese Verzweiflung meist überhaupt keinen bestimmten Grund. Manche Arme betrinken sich in aller Herrgottsfrühe, gleich beim Erwachen, sowie es ihnen einfällt, daß sie arm sind. In der Praxis beweist sich der Alkohol als das einzige Mittel, um die Armut mit Würde und einigermaßen gesund zu ertragen. Der Arme nimmt Getränke zu sich wie andere Aspirin gegen Kopfschmerzen. Es hilft auch fast immer. Das Leben der Armen in seinen kritischen Perioden ist mit dem Zustand eines operierten Kranken zu vergleichen, dem man nach einem Unfall ein wichtiges Sinnesorgan entfernt hat und der nun in seinem unerträglichen Schmerz dauernd jammert, wenn man ihm nicht von Zeit zu Zeit Morphium verabreicht. Der Unfall, der den Armen betroffen hat, ist die Armut. Das verlorene Sinnesorgan ist jener siebente Sinn, der den Menschen befähigt, sich in der Welt zu Hause zu fühlen, und über den jeder Wohlhabende verfügt. Der Arme fühlt sich nicht wohl in dieser Welt und muß, um nicht vor Schmerz zu jammern, ununterbrochen trinken.
    Man braucht sich meiner Ansicht nach über die Auswahl der Getränke nicht unnötig den Kopf zu zerbrechen. Am billigsten ist Wein und Trinkbranntwein – beide sind im Preis erschwinglich.
    Bier wirkt langsam, aber angenehm und sicher. Man soll natürlich verschiedenartige Getränke nicht wahllos hinter- und durcheinander trinken. Zwei, drei Gläschen Branntwein auf leeren Magen, und vor dem Essen, so gegen zwölf Uhr, zwei Glas Bier genügen vollkommen; zu Mittag sollen wir nur dann Wein trinken, wenn es uns darauf ankommt, nach dem Essen arbeitsfähig zu bleiben und unseren Geschäften gesund und mit jenem angenehmen kleinen Rausch nachzugehen, der die Vorbedingung jeder ersprießlichen Arbeit ist. Die mittags konsumierte Weinmenge soll jeweils unter einem Liter bleiben.
    Bei einigen lateinischen Völkern, besonders bei den Franzosen, hat sich allgemein die Sitte eingebürgert, aus Verzweiflung vor dem Mittagessen ein Wasserglas konzentrierten Alkohols zu sich zu nehmen; Vererbung und Gewohnheit ermöglichen es den französischen Armen, diese schweren Getränke zu vertragen; dagegen dürfen wir unsere Beobachtung nicht verschweigen, daß die vor dem Essen genossenen konzentrierten Alkoholmengen verdummend und einschläfernd wirken.
    Die Franzosen wissen dies, und da sie diesen Zustand hassen, trinken sie, um sich zu erfrischen, während der Mahlzeit sehr viel Wein. Es ist eine feststehende Tatsache, daß Völker, deren Arme in großer Zahl bedeutende Werke in der Geschichte vollbracht haben, dauernd und viel tranken. Die Engländer, Italiener und auch die Franzosen waren sowohl in kriegerischen wie in friedlichen Epochen ihrer Geschichte starke Trinker, während Völker, denen blödsinnige Gesetze auf eine gewisse Zeit die alkoholischen Getränke entzogen, unter Symptomen der Anarchie verfielen und nur zu bald die Beute mutwilliger trinkender Eroberer wurden, man denke nur an die Türken und später an die Inder.
    Eine Vorschrift, wieviel und was ein großes armes Volk trinken soll, wäre eine unfruchtbare und überflüssige Bemutterung. Die Erfahrung lehrt, daß, je mehr das Volk trinkt, zu desto größeren Taten es sich auch gelegentlich fortreißen läßt. Ebenso wäre es eine plumpe Dummheit, eine so kapitale Frage wie die des Alkoholverbrauchs zu verallgemeinern. Die Franzosen trinken hauptsächlich Wein, und dieser vortrefflichen und gesunden Neigung verdanken wir vornehmlich, daß sie die Welt endlich mit den Menschenrechten und der Zivilisation beschenkt haben; es ist vollends undenkbar, daß ein Volk, welches seit Jahrhunderten saure Milch und
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