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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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Lebensstandard der großen Massen verändert sich, gleichgültig, ob sie Arbeit haben oder nicht, in Wirklichkeit nur wenig. Ein chinesischer Kuli oder der Tagelöhner auf einer brasilianischen Kaffeeplantage, ein ägyptischer Fellache, ein farbiger Straßenbauarbeiter aus Dakar oder ein bretonischer Fischermatrose – sie alle besuchen die Oper nicht öfter, wenn sie Arbeit haben, sie kaufen nicht häufiger einen elektrischen Heizofen oder einen Radioapparat für Kurzwellen, sie reisen, lernen, zerstreuen und kleiden sich genau gleich zu Zeiten der Arbeit wie im arbeitslosen Zustand.
    In den Kochtöpfen der Armen schmoren die gleichen verdächtigen Speisen, ob sie nun arbeiten oder nicht. Mit ihrer Lungentuberkulose können sie nicht nach Davos und mit einer Nierenerkrankung nicht nach Heluan fahren, ebensowenig gelangen sie mit ihrer Nervenkrankheit zum Neurologen; ihre Kinder tragen die gleichen dürftigen Kleidchen, ob sie Arbeit finden oder arbeitslos sind.
    Die Großstadtarmen leiden zweifelsohne unter der Arbeitslosigkeit und sind dann gezwungen, ihren Lebensstandard zu reduzieren; der große Durchschnitt der Menschheit, die Massen Tibets, Chinas und Indiens, die Urbewohner Australiens, die mexikanischen Tagelöhner, die Hunderte Millionen afrikanischer Eingeborenen – sie alle leben gewissermaßen in einem Übergangsstadium zwischen Arbeitslosigkeit und Arbeit, in ständiger primitiver Beschäftigung, die man praktisch nicht mit dem Wort Arbeit bezeichnen kann; immer gleich anspruchslos, gleich versorgt oder unversorgt, ohne Rücksicht auf das Fallen oder Steigen des englischen Pfunds an der New Yorker Börse.
    Von den zwei Milliarden Menschen, die die Erde bevölkern, handelt es sich bei anderthalb Milliarden um Wesen, für die die »wirtschaftliche Krise« ein so chronischer, seit gut zehntausend Jahren bekannter und vertrauter Begriff geworden ist, daß die meisten sie nicht einmal mehr eines Wortes würdigen. Die großen Wirtschaftsprobleme, die die Verantwortlichen der Welt gegenwärtig in erhöhtem Maße beschäftigen, haben, vom Standpunkt der Armen aus, schon längst ihre Lösung gefunden. Und ich wiederhole: Dabei ist es ganz gleich, ob die Armen Arbeit haben oder nicht.
    Es ist eine altbekannte Tatsache, daß die Armen nicht nur faul, sondern auch gefräßig und obendrein Feinschmecker sind. Sie sind viel größere Feinschmecker als die Reichen, denn die meisten von ihnen geben einen großen Teil ihres Einkommens für Essen, für Brot, Zwiebeln und Naschwerk aus, im Gegensatz zu den Reichen, die nur einen winzigen Bruchteil ihres Einkommens verprassen. Die meisten Armen sind sogar so gefräßig, daß sie ihren ganzen Verdienst einfach aufessen.
    Dem Reichen ist eine so brutale materielle Gier unverständlich, und Ford, Dupont oder Morgan werden es nie verstehen können, daß es einen geheimen Befehl gibt, der dem wirklich gefräßigen Menschen – wie es viele Arme sind – gebietet, sein ganzes Vermögen von früh bis abends zu verzehren. Wirklichen Gourmands bin ich nur zwischen Armen begegnet.
    Selbst im Traum konnte sich Rabelais nicht so tüchtige Esser vorstellen, und Gajus Petronius konnte in seinem Schelmenroman »Cena Trimalchionis« keine so begeisterten Feinschmecker beschreiben, wie ich sie in Frankreich in den niederen Volksklassen, etwa bei Hausmeistern, Zinngießern und Flickschustern, beobachten konnte. Wenn die Armen essen, dann essen sie auf Leben und Tod. Die geschwätzigsten Menschen verstummen während des Essens. Sie geben sich dem Essen mit so viel Andacht, so in sich versunken hin, als fürchteten sie, die einzige Gelegenheit, mit der Welt in Berührung zu kommen, zu versäumen. Nur die raffiniertesten Schlemmer, die die Welt mit ihren Werken über die Gastronomie beschenkt haben, schätzen die Zusammensetzung und die Zutaten der Speisen in so hohem Maße wie die Armen. Es ist eine wirkliche Freude, die Armen beim Essen zu beobachten: Das Brot, der Speck, alles gewinnt in den Händen der Armen seine Urbedeutung wieder, verwandelt sich in die Ursubstanz, in den Ursprung allen Lebens.
    In keiner anderen Beziehung vermag sich der Arme so ungestört auszuleben wie im Essen. Die Armen sind, gleich dem Marquis de Cussy, Grimod de la Reynière und Brillat-Savarin, die überzeugtesten Anhänger des reinen materiellen Genusses, dem Genuß des Essens. Ihre Gedankenwelt wird von der Wiege bis zum Grabe von der Beschaffung guter Bissen beherrscht. Wir preisen das Essen, denn der
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