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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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gedeckte Tisch ist das einzige Paradies, dem der Arme sich nähern kann. Schon der Gedanke an Nahrung erfüllt ihn mit unsagbarer Freude. Wie ausgewechselt, auf eine halbe Stunde erlöst von der drückenden, dumpfen Atmosphäre seines täglichen Lebens, mit glänzenden Augen, geradezu verschönert nehmen die meisten Armen am gedeckten Tisch Platz. Viele von uns sind nur bei Tisch wahrhaftig und von Herzen gut; im Bett oder im öffentlichen Leben ist es schon viel schwieriger, gut zu sein.
    Man hat das Gefühl, daß es sich beim Reden über Tafelfreuden schicken würde, den Sprachschatz großer Meister des Wortes zu Rate zu ziehen, um für die Armen richtige Worte zum Lob des Essens zu finden. Ich persönlich kann mich in meinem in Armut verbrachten Leben an keine andere Gelegenheit erinnern, bei der ich mit so viel uneigennützigem gutem Willen der Welt und meiner Mitmenschen gedacht hätte wie während des Essens.
    Über die Kochkunst hat man – zu Unrecht – bei weitem nicht so viele Bücher geschrieben wie über die Liebe, vielleicht weil sie aus Büchern nicht erlernbar ist, vielleicht auch, weil die Menschen aus falscher Scham die Tafelgenüsse weniger hochschätzen als die schmerzhaft glücklichen Freuden der Liebe. Die Bücher Brillat-Savarins und der anderen erwähnten Lebensphilosophen geben dem Armen nur wenige nützliche Fingerzeige; die Gastronomie ist eine höchst komplizierte und kunstreiche Wissenschaft, die uns beispielsweise in allen Einzelheiten lehrt, warum es richtiger ist, die Krammetsvögel über Kerzenflammen zu braten und nicht am Spieß über offenem Feuer. Derlei kleinliche Verirrungen des Geschmacks interessieren die armen Feinschmecker nicht.
    Der Arme freut sich meistens nicht über das, was er ißt, sondern einfach über die Tatsache, daß er überhaupt ißt. Er macht sich über eine Handvoll ranziger Speckgrieben mit einer Andacht her, die fast rührend wirkt. Ich erinnere mich an Fleischspeisen und Geflügel, die mich in gewissen Augenblicken mit dem Gefühl der Zwecklosigkeit unserer Existenz fast versöhnten. Während des Essens sind meine Sinne aufs höchste angeregt, und ich bin in diesem Augenblick ausschließlich gehobenen und edlen Gedanken der Vergebung zugänglich. Während der Mahlzeit vergebe ich nicht nur meinen Feinden, sondern auch, was noch viel schwieriger ist, meinen Freunden und meinen Lieben.
    Der Arme lebt nur in den Augenblicken der Mahlzeit eine menschenwürdige Existenz. Wer dies nicht versteht, verdient nicht zu leben oder leidet an einer schlechten Verdauung. Welche Ratschläge können wir dem Armen im Zusammenhang mit dem Essen erteilen? Von den etwas verdächtig klingenden umständlichen Theorien Brillat-Savarins vermögen wir nur ein grundlegendes Gesetz einzuhalten, welches das Geheimnis aller irdischen Freuden, so auch des Essens, in sich birgt: »Schnell und gierig zu essen ist eine der größten irdischen Sünden.«
    Sonst kann man die Ratschläge des Bürgermeisters der Stadt Belley so ziemlich beiseite lassen, der unbekümmert um die Französische Revolution, um die Napoleonischen Kriege und die Restauration ruhig weiteraß, über den aber sein Zeitgenosse, der Marquis de Cussy, einer der feinsten Gourmets der Epoche, lediglich verzeichnete: »B.-S. aß reichlich und gegen alle Regeln; in der Zusammenstellung der Speisenkarte besaß er wenig Invention, die Tischkonversation führte er schwerfällig, und nach dem Essen sank er erschöpft in sich zusammen.« Nebenbei verstand er nicht viel vom Trinken, wie es auch sein Buch an manchen Stellen verrät. In seinen letzten Lebensjahren aß er angeblich nur Käse und weichgekochte Eier im Glas. Dies ist, aus der Nähe betrachtet, das Bild der meisten berufsmäßigen Feinschmecker.
    Der Arme handelt richtig, wenn er auf die komplizierten Ratschläge der Kochkünstler pfeift, und da er sowieso selten die Speisen ißt, die er gern essen möchte, sondern das, was er sich eben verschaffen kann, verbessert er zwangsläufig seine einfache geschmacklose Nahrung mit den Gewürzen seiner Phantasie.
    Langsam essen, so lautet mein Ratschlag für die Armen, und dabei an erlesene, angenehme Dinge denken. Ein Kochbuch mit praktischen Ratschlägen darüber, woran man beim Verzehr von ranzigem Speck, viertägigem Brot und einer Schüssel Polenta denken soll, damit dem Armen nicht endgültig die Lust am Essen und am Leben vergeht – ein solches Kochbuch würde in unserer Gesellschaft, wo der Arme unregelmäßig,
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