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Schule der Armen

Schule der Armen

Titel: Schule der Armen
Autoren: Sándor Márai
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Freude, denn die Dinge bedeuten ihm eine Botschaft aus der Welt in die Einsamkeit und Abgeschiedenheit seiner Armut.
    Er freut sich sogar über ein benutztes Trambahnbillett und studiert eingehend den kleinen Stadtplan darauf, denn er zeigt ihm die Skizze seines Reiches, und er schaut sie ebenso bewundernd an wie Sven Hedin die englische Generalstabskarte von Tibet.
    Der Arme ist meist so arm, daß er sich sogar über Begräbnisse und Hinrichtungen freuen kann. Bei Spaziergängen durch die Stadt bewundern die Armen die Reiterdenkmäler der Nationalhelden mit der gleichen Andacht wie die Mülleimer vor den Häusern. Eine so andächtige Einschätzung der Dinge ist Kleinplastik. Aber das kann man in der Schule nicht lernen.
    Ein seltsamer Rausch befällt manchmal die Armen. Gleich einem Schwerkranken im Delirium feiern sie ihre Krankheit, empfinden die Armut als eine Gabe des Schicksals, als einen edlen, höheren Zustand, und geben diesem fiebrigen Wahn mit ekstatischen Reden und Hymnen Ausdruck. Die profane Literatur ist nicht minder gesättigt mit dem überschwenglichen Lob der Armut als die kirchliche. Dichter und Heilige preisen die Armut als das höchste Gut, als eine Gnade, die der Menschheit in Urzeiten zuteil wurde, und wir können von Johannes von Paorna bis zu den großen russischen Schriftstellern eine ganze Reihe von Beispielen zur Charakterisierung dieses Rauschzustands der Armut anführen.
    Die einfache, kaum erweiterte christliche These, daß die Armen leichter und eher in den Himmel gelangen als die Reichen, wurde von den späteren Schriftvätern mit Vorliebe und nur zu oft so ausgelegt, als wäre das himmlische Reich schon hier auf Erden auffindbar, als wäre die Armut sozusagen der Vorgarten des Paradieses. Diese Herrlichkeit der Armut haben wir persönlich nie empfunden. Ich habe im allgemeinen unter der Armut gelitten und sie nur schwer ertragen. Viel Übung und mannigfaltige Erfahrungen haben mich jedoch gelehrt, dem Rausch der Armut, diesem seltenen, erregenden und nervenstärkenden Seelenzustand, welcher bei der Erkenntnis gewisser Dinge zeitweise jeden sensitiven Armen befällt, wenigstens Verständnis entgegenzubringen.
    Man könnte wahrlich sagen, daß es Festtage des armseligen Lebens sind, wenn der Arme sein Erdenschicksal gleich einem göttlichen Geschenk feiert und alles, was er in seinen nüchternen Augenblicken als lebenslängliche Gefangenschaft betrachtet, nun für Freiheit hält.
    Bis auf wenige Ausnahmen verherrlichen die vornehmsten Autoren in ihren Werken die Freiheit der Armut. Dante und ebenso Rousseau preisen die Armut, und der heilige Paulus ist von ihr so begeistert wie G.B. Shaw. Auch die philosophische Literatur lehrt uns, daß nur die Armut dem Menschen die wahre, die vollkommene Freiheit verleiht. Je ärmer, desto freier ist der Arme.
    Dieser ungebundene Zustand erinnert fast an die Freiheit der Tiere. »Frei wie der Vogel«, sagt der Volksmund und meint damit zugleich, daß der Vogel besitzlos ist wie ein Armer, also frei. Die Freiheit der Armen ist am treffendsten mit der Freiheit der Wildschweine und der Fische vergleichbar. Der Rausch des Seins, welcher zeitweise ein Freiheitsgefühl in den Armen auslöst, befällt manchmal auch die Tiere.
    Alle Philosophen kennen diesen Rausch, und ich hatte auch Gelegenheit, ihn an mir selbst zu beobachten. In seltenen und entscheidenden Augenblicken meines Lebens dämmerte schemenhaft die Erkenntnis herauf, daß ich vollkommen frei sei, da alles mir, dem Armen, Gehörige materiell so wertlos ist, daß ich mich meines weltlichen Vermögens unbedenklich jeden Augenblick entblößen kann und ohne Verlust zu erleiden nach Honolulu oder gar in den Tod abreisen könnte.
    Eines Tages erkannte auch ich die beglückende Wahrheit, daß ich frei bin, weil ich in diesem Leben nichts zu verlieren habe. Der Reiche kennt diesen Rausch nicht. Diese Erkenntnis aber lehrt den Armen, sich nicht besonders an das Leben zu klammern. Die Freiheit der Armen ist überdimensional und überwindet selbst die Grenzen des Lebens. Mancher Arme wirft sein Leben wie ein wertloses Faksimile nur zu leicht fort und nimmt ohne besonderes Bedauern und ohne das Gefühl, etwas zu verlieren, Zuflucht in den Tod. Diese Freiheit ist wahrlich berauschend.
    Die Frage, ob sich die Aussichten der Armen im Jenseits rosiger gestalten werden als im Erdenleben, bleibt ungelöst; den Verdacht, es könnte nicht so sein, drückt der beredte und saftige Ausspruch des Volksmundes aus:
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