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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig
Autoren: Katrin Jäger
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umgebaut. Das hieß: Viktoria sollte einen großen Text von hundertdreißig Zeilen Länge schreiben, Marios Fotos gingen auf die Titelseite und füllten eine Doppelseite im Innern des Express . Das Ganze musste um Mitternacht in den Druck gehen, damit die Leser morgen passend zur frischen Schrippe ihren Neujahrsmord bekamen.
    Die meisten Bilder, die Mario gemacht hatte, konnten nicht veröffentlicht werden. Ein aufgeschlagener Kopf, Blut, Hirnmasse, bleiche Finger, tote Augen – das würde selbst den abgehärteten Lesern des Express den Appetit verderben. Mario scrollte schnell über die Leichenfotos. Er sagte nichts. Viktoria stellte ihre Cola beiseite. Sie druckten andere Fotos aus. Auf einem sah man die Beamten der Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen. Ein anderes zeigte die abgedeckte Leiche im Schatten des Gebüschs. Das nächste war ein Schuss in den dunklen Fußgängertunnel. Ein Bild vom Müggelsee, im Vordergrund Polizeibeamte, Hunde.
    »Druck das mal«, Viktoria tippte auf den Bildschirm.
    »Hey, nicht auf meinen Bildschirm tatschen, Victory!«
    Doch Mario druckte.
    »Was ist das?« Viktoria zog das Papier aus dem Drucker.
    Mario zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Müll oder so.«
    Das Bild war eine Detailaufnahme von der Hand des toten Mädchens. Es war eines dieser Fotos, die man Mario überhaupt nicht zutraute, die er aber immer wieder machte. Kein Chef würde es je drucken, weil es einfach zu speziell war. Zu sehr Kunst statt Journalismus. Die Hand des Mädchens war ganz zart, die Fingernägel nicht zu lang, sie waren gepflegt, nur ein Hauch von pinkfarbenem Nagellack darauf. Am schlanken Handgelenk erkannte sie eines dieser Bettelarmbänder, die jetzt viele Teenager trugen. Es wird nie wieder klimpern, dachte Viktoria.
    Mario räusperte sich. »Meinst du das?« Er zeigte auf etwas, das hinter der Hand zu erkennen war.
    Viktoria nickte.
    »Das habe ich noch größer.« Mario öffnete ein anderes Bild und druckte es aus. Im Gebüsch, nur ein paar Zentimeter von der zarten, toten Hand entfernt, lag ein Bogen Briefpapier mit schwarzer Schrift darauf. »Kannst du das lesen?«
    »Noch nicht.« Mario zoomte auf die Schrift, und beide rückten ganz nah an den Bildschirm.
    Viktoria las vor: »Es tut mir leid, kleiner schwarzer Engel.« Viktoria schaute Mario an, dann las sie weiter: »Manchmal laden wir so große Schuld auf uns – so groß. Doch zu sterben ist leichter, als damit zu leben. Ich weiß es jetzt.«
    »Ach du Scheiße«, Mario lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. »Ist das vom Mörder?«
    »Wenn es von ihm ist, dann hat er komisches Briefpapier.«
    Mario rückte wieder an den Monitor. Viktoria tatschte wieder auf den Bildschirm, doch Mario wies sie diesmal nicht zurecht. »Ein Wasserzeichen!«, sagte er.
    Viktoria nickte. »Ganz genau. Das ist ein Briefbogen mit einem Wasserzeichen von einer hässlichen, großen Ratte.«
    Mario pfiff durch die Zähne. Viktoria stand auf. »Druck das mal aus. Wir gehen zum Chef – ich glaube, wir müssen die Zeile mit Schneewittchen noch mal ändern. Rattenmörder ist irgendwie geiler, finde ich.«
    Viktoria legte das Agenturfoto, das den Biber auf dem Schützenvereinsbanner zeigte, neben die Grafik von der Ratte. Sieben Monate lang hatten sie gerätselt, was es mit diesem Brief auf sich hatte. Sie hatten Firmenlogos in ganz Berlin und Brandenburg überprüft, hatten Symbolbücher studiert, Homepages gecheckt – doch nirgends fanden sie einen Hinweis, nirgends gab es eine Ratte, die so seltsam aussah wie die vom Tatort. Sie erinnerte sich noch an die fluchende Grafikerin, die mit dem Foto von Mario zum Chef lief. »Der Schwanz fehlt«, sagte sie. »Ich kann das nicht einfach nachzeichnen.«
    »Na, dann machen Sie halt ein Schwänzchen dran«, sagte der Chef und grinste. »Ein hübsches kleines Rattenschwänzchen.«
    Sie nahm das frisch ausgedruckte Agenturfoto und legte es auf den Kopierer. Sie vergrößerte das Bild, Stück für Stück. Dann nahm sie die letzte Vergrößerung und legte sie neben das Wasserzeichen der Ratte, das Mario damals fotografiert hatte. »Das gibt’s nicht«, murmelte sie. »Die Ratte ist ein Biber!«
    Fast zufrieden öffnete Viktoria ihre zweite Dose Cola light, die noch recht kühl war. Gut, dass sie hier saß – weit weg von der Redaktion. Gerade hatten sie einen Anschiss kassiert, weil die BILD angeblich mal wieder viel besser war. Es ging um die Ekelgeschichte mit dem toten alten Mann, der ein
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