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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig
Autoren: Katrin Jäger
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1. Kapitel
     
    Wo fängt man an, wenn man anfängt? Welcher Moment ist der Moment? DER MOMENT. Wo stand der kleine Zeiger, wo der große, wo der Mond, die Sonne, die Sterne, wo stand Viktoria, als die Weichen ihres Lebens sich in eine andere Richtung verschoben?
    Sie weiß es nicht sicher. Doch sie hat diese Ahnung, dass der Moment der Momente ziemlich erbärmlich war. Denn wenn sie all die Details betrachtet, von denen jedes kleinste zum nächsten kleinen und schließlich zum großen führen sollte, waren es zwei verbrauchte LR03-Batterien von Varta, die ihr Schicksal entscheidend beeinflussen sollten. Ohne die Batterien, die mindestens drei Jahre lang in einer Küchenschublade gelegen hatten, wäre sie heute eine andere.
    Als sie an jenem Donnerstag eine gelblich braune Pampe in ihre Kloschüssel spuckte, ahnte sie von all dem natürlich nichts. Ihr war einfach nur zum Kotzen.
    Ferdinand Upphoff ging es vierhundertachtundsechzig Kilometer entfernt – abgesehen von seinen chronischen Rückenschmerzen – gut. Er schlief. Vorher hatte er noch jene zwei saftlosen Batterien aus der Küchenschublade gekramt und sie in den neuen Wecker gesteckt. Der alte war ihm einfach zu laut gewesen. So hatte er sich im Quelle-Shop die kleine, viereckige Plastikuhr gekauft. »Sanfter Summton« stand darauf.
    Ferdinand Upphoff hörte den sanften Summton am nächsten Morgen nicht. Die Batterien hatten ihre Lebenszeit beendet – sie lagen ohne jede Energie im Batteriefach des Weckers. Der Wecker schwieg, Ferdinand Upphoff verschlief und statt wie üblich um sechs, öffnete er erst um 7.17 Uhr die Augen – und das Einzige, was er dachte, war: »SCHEISSE!« Er sprach es jedoch nicht aus, denn Ferdinand Upphoff war im Großen und Ganzen ein anständiger Mann.
    Aufstehen, Zähne putzen, Wasser ins Gesicht, ein bisschen Deo unter die Achseln, Haare kämmen, Pyjama ausziehen, Karohemd und Bundfaltenjeans anziehen, das verdammte Kreuz tat weh! Um 7.31 Uhr trank er im Stehen einen Kaffee, verbrannte sich, fluchte. Um 7.32 Uhr knallte er die Tür zu, der Motor heulte auf. Ferdinands Frau saß die ganze Zeit still im Wohnzimmer. Vor genau siebenundzwanzig Jahren hatte er ihr ewige Treue geschworen, und sie hatten sich das Jawort gegeben. Wer weiß: Hätte Ferdinand Upphoff nicht verschlafen, hätte er den Hochzeitstag nicht vergessen – und vielleicht wäre Viktoria dann immer noch Victory.
    Victory kannte weder Ferdinand noch Elisabeth Upphoff, sie kannte nicht die Hochzeitskirche von Westbevern, nicht den Pastor, nicht die Taschenuhr vom Großvater. Für sie war einfach alles wie so oft.
    Sie hatte erst viel gearbeitet und dann noch viel mehr getrunken.
    Im Moment war Averna angesagt. Aber nach der Karussellfahrt der letzten Nacht erklärte sie diesen Trend für erledigt. Sie hatte mit Kollegen vom Berliner Express zusammengesessen. Sie waren gut drauf, wie immer.
    Sie lachten laut, wie immer. Sie waren die Größten, wie immer. Und alles war gelogen, wie immer.
    Viktoria Latell nannten sie Victory. Wohnhaft in Berlin-Kreuzberg, in der Oranienstraße gleich beim Inder Amrit und nicht weit vom Görlitzer Park entfernt.
    Eine Dachgeschosswohnung mit Aufzug, Ahornparkett, Marmorbad, guter Isolierung. An jenem Abend vor ihrem Kater und Ferdinand Upphoffs Vergesslichkeit war sie gerade einen Monat lang zweiunddreißig Jahre alt. Sie kam damit klar, das Alter war ihr egal. Hauptsache, sie nahm nicht zu und die Haare saßen. Sie hatte sie inzwischen von dunkelbraun zu schwarzblau gefärbt. Das machte sie exotischer und passte zu ihren blaugrünen Augen – wenigstens dafür war sie ihrer Mutter dankbar. Sie aß nur noch ausnahmsweise. Zum Frühstück einen Apfel, mittags eine Banane und abends Salat. Anders ging es nicht. Sie hatte die Fünfundsechzig-Kilo-Grenze geknackt und wollte sie nicht wieder überschreiten. Gegen die Übelkeit trank sie jede Menge Cola light. Es funktionierte. Noch.
    Komischerweise hatte sie an diesem Abend – entgegen ihrer Gewohnheit – tatsächlich gute Laune. Und das, obwohl Konstantin wieder mal nicht und ihre Mutter wieder mal angerufen hatte. Sie hatte genau dreiundzwanzig Minuten – Viktoria stoppte neuerdings mit – darüber gejammert, dass sie sich so alleine fühle und dass Viktoria sie viel zu selten besuchen würde, bevor sie mit den richtigen Vorwürfen begann. Sie habe es ja immer so schwer gehabt mit ihrer Tochter. Die alte Leier: Sie als alleinerziehende Mutter hätte sich nie einen
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