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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig
Autoren: Katrin Jäger
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paar Tage in seiner Wohnung verwest war und dessen hungriger Schäferhund seinen Kopf aus lauter Verzweiflung angefressen hatte. Die Kollegen von der Konkurrenz hatten den Namen des Hundes, der Express nicht. Er hieß: REX!
    Viktoria schmunzelte vor sich hin. Den Sitz hatte sie zurückgestellt, die Knie am Vordersitz angelehnt. Noch zweieinhalb Stunden im klimatisierten ICE, dann umsteigen in Münster, am späten Abend würde sie in diesem Schützenkaff ankommen. Im Ortsverzeichnis sämtlicher Städte und Gemeinden Deutschlands hatte sie folgenden Eintrag gefunden: »Telgte, Nordrhein-Westfalen, Regierungsbezirk Münster, bestehend aus den Ortsteilen Telgte, Westbevern und Westbevern-Vadrup, 17 800 Einwohner.«
    Das sind weniger Menschen, als ins Olympiastadion passen, dachte Viktoria und nahm einen Schluck aus der Dose.
    Noch etwa eine Stunde bis Münster. Die Digitalanzeige des ICE zeigte 22.18 Uhr, und Viktoria gähnte laut. Das Großraumabteil war leer. Sie versuchte, in die Dämmerung draußen zu schauen, doch sie sah nur ihr Spiegelbild im Fenster. Blödes Augenbrauenzupfen, dachte sie. Sieht man wegen der Haare sowieso nicht.
    Es war kühl. Viktoria deckte sich mit ihrem grauen Trenchcoat zu und knüllte ihren pinkfarbenen Strickpulli zu einem Kissen. Den Kopf lehnte sie an die Scheibe, schloss die Augen und spürte den kühlen Klimaanlagenwindzug in ihrer Nase. Ihr Atem wurde so gleichmäßig wie das leise Rattern des Zuges. Sie zuckte noch einmal, dann schlief sie ein.
    Elisabeth Upphoff schlief nicht. Mit geöffneten Augen lag sie allein und hellwach im Ehebett. Ihr Magen fühlte sich an, als sei eine Armee Ameisen dort eingezogen. Morgen begann das Schützenfest. Dieses verdammte Schützenfest. Und das ganze Dorf würde über sie reden. Sie würden lachen, tuscheln oder noch schlimmer: mitleidig die Augenbrauen heben. »Schaut mal, da ist die verrückte Elisabeth!« – »Durchgedreht ist sie, einfach durchgedreht.«
    Und das alles nur, weil sie so verletzt war.
    Ferdinand liebte seinen Schützenverein. Er war schon als Sechzehnjähriger eingetreten. Klar, dass er eines Tages König werden wollte. Schon seit sie denken konnte, hatte er davon gesprochen. »Im nächsten Jahr, da hol ich den Vogel runter. Da pack ich es.«
    Im letzten Jahr hatte er es beinahe gepackt. Er hatte vorher schon eine kleine Summe gespart, um die königlichen Verpflichtungen erfüllen zu können. Er hatte keinen Tropfen Alkohol getrunken, als es ans Schießen ging, er zielte ganz genau. Am Ende trugen die Schützenbrüder seinen verhassten und arroganten Nachbarn auf ihren Schultern. »König Ludwig! Er lebe hoch!« Er hatte die ruhigere Hand gehabt.
    Doch in diesem Jahr sollte es endlich klappen. Und es sah gut aus. Es gab keinen Konkurrenten, Ferdinand hatte heimlich schießen geübt und selbst sein Horoskop – er war Schütze! – prophezeite: »Sie gehen gerade auf Ihr Ziel zu und schaffen es!«
    Morgen begann das Schützenfest, an dessen Ende er auf den Schultern seiner Kameraden jubeln wollte. Das Schützenfest, bei dem Ferdinand König Ferdinand werden wollte. Das Schützenfest seines Lebens sollte es werden. Doch seine eigene Frau hatte alles kaputt gemacht. Weil sie ihre verdammte Wut nicht zügeln konnte, darüber, dass er ihren Hochzeitstag vergessen hatte. Und darüber, dass er sich nicht einmal entschuldigte. Jetzt wusste sie es besser. Sie hätte ihn einfach anschreien sollen, ein paar Tassen gegen den Fliesenspiegel werfen sollen. Doch das war einfach nicht ihre Art. Sie mochte keinen Streit. Und so wuchs ihre Wut. Als sie nicht mehr wusste, wohin mit ihren Gefühlen, beschäftigte sie ihren Kopf. Sie schmiedete einen kleinen Racheplan. Sie kaufte sich eine grüne Jacke und eine schwarze Hose und hängte sie in den Schrank. Und natürlich fand Ferdinand die Kleidungsstücke.
    »Sag mal, Elli!«, rief er die Treppe herunter.
    »Was denn?!«, kam es genervt aus der Küche zurück.
    »Was ist das für eine Schützenjacke? Die ist mir doch viel zu klein …« Ja, er hat angebissen, dachte sie und antwortete ganz kühl:
    »Das ist meine.«
    »Deine?«
    »Ja, sagte ich es dir noch nicht? Ich werde auch schießen. Ich will Königin werden.« Stille.
    Elisabeth horchte. Hätte er doch nur geflucht, getobt, geschrien. Sie hätte zurückgebrüllt, die Türen geknallt, die Tasse geworfen. Ihr Zorn, der Frust – alles wäre herausgekommen. Doch so fühlte sich der Triumph, dass ihr Racheplan aufging, nur zartbitter an. Sie
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