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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig
Autoren: Katrin Jäger
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horchte weiter. Die Stille – sie dröhnte in ihrem Ohr. Und es hörte nicht mehr auf, das stille Dröhnen. Nicht am nächsten Tag, nicht in der nächsten Woche, nicht im nächsten Monat. Ferdinand sagte nichts mehr. Kein »Guten Morgen, Elli«, kein »Gute Nacht, Ferdi«, kein »Hast du an die Mülltonne gedacht? … Sieh mal die Rosen blühen« oder »Wusstest du, das Meierichs Tochter heiratet?«
    Er schlief im Gästezimmer, und sie lag wach im Schlafzimmer. Ferdinand und sie schwiegen. Vierundzwanzig Stunden am Tag, vierundzwanzig zähe, klebrige Stunden, die Bauchschmerzen verursachten.
    Viktorias Kopf lehnte noch immer an der kühlen Fensterscheibe des Zuges. Ein Speichelfaden drohte gerade aus ihrem linken Mundwinkel zu tropfen, da starrte er sie aus dem Dunkel an.
    Ein Mann. Sie konnte ihn ganz deutlich sehen. Er hatte wasserblaue Augen. Das Gesicht war grau und weiß und farblos zugleich. Seine Arme baumelten wie zwei Fremdkörper an seinen Schultern. Blonde Haare fielen in seine Stirn. Dann sah sie die Füße mit den braunen Socken, sie berührten die Wiese unter ihm nicht. Sie bewegten sich langsam hin und her. Wie der ganze Körper, der an einem knorrigen Baum hing. Dann, kaum zu sehen, Millimeter um Millimeter, hob der Mann seine Arme. Seine wasserblauen Augen füllten sich mit Tränen, während sie Viktoria ansahen. Nein, anstarrten, nein, in sie hineinglotzten. Die Arme, er hob sie weiter. Und plötzlich packte er zu.
    Viktoria schrie. Der Schaffner, der sie wach rüttelte, blickte sie erschrocken an.
    »Oh, äh. Entschuldigung. Ich wollte Sie doch nur wecken, wir sind in Münster.«
    »Ach, du Kacke. Was für ein beschissener Traum«, fluchte Viktoria und nieste. »Von Ihrer blöden Klimaanlage holt man sich ja ’ne Grippe.«

2. Kapitel
     
    Am nächsten Morgen wartete Mario Siewers schon an der Theke des Gasthofs König, als Viktoria mit Halsschmerzen, dem pinkfarbenen Pulli, der schwarzen Leinenhose und müden Augen die Treppe herunterkam. Er war der beste Fotograf, den der Express hatte. Vielleicht auch einfach nur der skrupelloseste.
    »Morgen, Victory! Du siehst ja vielleicht fertig aus. Schlecht geschlafen?«
    Ihr war nicht nach Morgenstund’ hat Gold im Mund. »Ja, ich hab schlecht geschlafen«, knurrte sie.
    Im gleichen Moment kam aus einer Schwingtür hinter der Theke eine Frau. Mitte fünfzig, rotes Gesicht, breiter Hintern und eine Kittelschürze mit rosa Blumenmuster am Leib, die bestenfalls in den Sechzigerjahren frei zum Verkauf stand.
    »War was nicht in Ordnung mit dem Zimmer?!«, fragte die Frau ohne Regung im Gesicht, dafür aber mit leicht schnippischem Unterton.
    »Nee, nee. Alles klar. Lag an mir selbst. Schlafe eben schlecht.« Viktoria nuschelte in Richtung rosa Kittelschürze.
    »Ach, junge Frau, das ist übel. Mein Harry kann auch immer so schlecht einschlafen. Und wenn dann doch mal, dann schnarcht er ganz furchtbar, manchmal hört er sogar ganz auf zu atmen. Die Hölle ist das. Dabei liegt es oft nur an einer schlechten Verdauung. Passen Sie bloß auf, dass das nicht chronisch wird bei Ihnen. Und essen Sie nie zu viele Zwiebeln.«
    »Ja, danke. Tu ich nicht.« Na prima, Viktoria war genervt. Blähungen am frühen Morgen. Muss das denn sein?
    »Es geht mich ja eigentlich nichts an, aber was machen Sie eigentlich hier? Ich meine, dass so eine moderne, junge Dame aus Berlin ausgerechnet in unser Gasthaus kommt, ist ja schon was Besonderes. Aber mein Harry hat Sie wohl gestern Abend nicht gefragt, er traut sich immer nicht so recht. Sagte nur, dass Sie mit dem Zug angereist sind. Und dass Sie aus der Hauptstadt kommen. Ist ja eher so ein ruhiger Typ, mein Harry.«
    »Ja, das ist er. Der Harry.« Schade, dass Harry nicht da ist und mich anschweigt, dachte Viktoria.
    Mario verdrehte die Augen, er saß mit dem Rücken zur Rosa-Kittel-Frau. Doch auch vor ihm machte sie nicht halt.
    »Ja, und jetzt sind Sie auch noch aus Berlin angekommen«, sagte sie und deutete mit ihrem Zeigefinger auf seinen Rücken. »Habe ich am Kennzeichen erkannt. Was ist das eigentlich da draußen, ein Porsche?«
    »Das ist ein Fiat Barchetta«, murrte Mario, ohne sich umzudrehen.
    Die Frau gab nicht auf. »Mit dem ist man ja schnell von Berlin hier bei uns. Wie lange fährt man da eigentlich?«
    »Eine knappe halbe Stunde!«, sagte Mario, der genau vier Stunden und dreizehn Minuten gebraucht hatte. Viktoria blickte vorsichtig Richtung Kittelschürze. Ob sie jetzt sauer werden würde, weil Mario sie so
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