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Schützenkönig

Schützenkönig

Titel: Schützenkönig
Autoren: Katrin Jäger
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wirklich, für hier eine echte Überraschung.
    Dann sprach er zu den drei Männern vor ihm. »Ich muss Harry ’nen neuen Schlauch besorgen – sonst läuft nix mehr.«
    O nein, bitte nicht!, dachte Viktoria. Sie wartete auf das dreckige Lachen der Typen. Nach dieser Vorlage von Kai, der plötzlich nur noch eine Drei minus war, kam der unvermeidbare Spruch: »Bei dem läuft doch schon lange nix mehr, oder warum ist seine Frau immer so zickig?« Har har har! Männer in Gruppen ab drei Exemplaren haben offensichtlich überall den gleichen flachen und versauten Schwachsinnshumor, dachte Viktoria. Alles dreht sich um ihr extrem überschätztes Gemächt! Was für Würste!
    Dann kam Harry, der so ganz und gar nicht dirty war. Er lächelte und winkte Viktoria zu sich. »Sie müssen Frau Latell aus Berlin sein«, sagte er, und tiefer Respekt klang in seiner Stimme mit. Auf das dreckige Lachen vom Thekentrio hörte er gar nicht. »Ich hoffe, Sie haben gegessen, die Küche ist schon zu. Und ein frisches Bier kann ich Ihnen leider auch nicht anbieten – die Zapfanlage ist kaputt.«
    »Ja, ich weiß, Kai muss erst noch einen neuen Schlauch besorgen«, Viktoria schenkte ihm ihr bezauberndes Siegeslächeln, das ihr schon so manche Tür geöffnet hatte.
    Harry reagierte prompt, griff erst nach einem Schlüssel in der Schublade vor ihm und dann nach ihrem Rollkoffer. »Ich bring Sie mal nach oben.« Wieder dreckiges Lachen von der Theke.
    »Oh, Harry. Nach oben bringst du sie …«
    Harry und Viktoria ignorierten den Spruch.
    Der schmächtige, angegraute Wirt mit dem Seitenscheitel ging vorweg. Links neben der L-förmigen Theke war ein langer Flur. Von dort ab führte rechts eine Tür zur Küche. Gegenüber war erst die Herren-, daneben die Damentoilette – ein Mädchen auf einem Töpfchen und ein Männeken Piss aus Kupferimitat wiesen den rechten Weg. Dahinter kam noch eine Tür. Durch deren Glasscheiben sah man einen großen Raum. Mindestens fünfzig Stühle waren an die Wand gestapelt, alles stand voller Tische. Über der Tür hing eine grüne Fahne. In goldener Stickerei stand dort »Schützenverein Westbevern e.V. seit 1780«. Viktoria blieb stehen und las die Buchstaben. Der Biber schimmerte ebenfalls in Gold. Er saß auf seinen Hinterbeinen, die Vorderpfoten sahen aus, als würden sie einen Boxkampf mit der Luft machen, und zwei krumme Nagezähne schauten aus seinem Maul, das zu einem schrägen Grinsen verzogen war. Viktoria hatte keinen Zweifel mehr: Die Müggelsee-Ratte lächelte genauso dämlich wie dieser Provinzbiber.
    Sie blickte auf das gewienerte Parkett und stellte sich vor, wie eine riesige Blutlache das Eichenholz dunkelrot einfärbte. Sähe bestimmt nicht ganz so eklig aus wie auf Auslegware, dachte sie. Doch der Geruch, der würde gleich sein. Er war immer gleich. Auf Fliesen, auf Teppich, auf Laminat – wenn Viktoria es mal wieder geschafft hatte, beinahe gleichzeitig mit der Polizei an einem Tatort zu sein, dann roch sie das Blut schon vor der Tür. Es duftete unendlich süß und unglaublich traurig und widerlich. Ein Urinstinkt, der tief in jedem Menschen verwurzelt sein muss, schrie einem geradezu ins Gehirn: »Mach, dass du wegkommst – hier findest du nur Tod und Verderben!«
    »Man jewöhnt sich dran«, hatte Charly ihr gesagt. Doch sie gewöhnte sich nicht. Was für ein Glück die Putzfrau hatte, dass die durchgeknallte Hausfrau nicht geschossen hat, dachte sie. Harry drehte sich um: »Morgen ist Schützenfest«, sagte er. »Geh’n Se doch mal hin.«
    »Tu ich«, sagte Viktoria. »Tu ich.«
    Am Ende des Flurs führte die Treppe im rechten Winkel nach oben, Harry blieb kurz auf der ersten Stufe stehen und zeigte auf die gerahmten Fotos an der Wand. »Alles Majestäten«, sagte er. »Bis hier hoch hängen all unsere Schützenkönige.«
    Er ging weiter, und Viktoria folgte ihm langsam. »Alle?«, fragte sie.
    »Na ja, alle, von denen es Fotos gibt.«
    Tatsächlich. Unter dem ersten Foto stand die Jahreszahl 1930. Darunter: Seine Majestät Hubert I. Der Mann nannte einen gewaltigen Zwirbelschnäuzer sein Eigen, er schaute ernst. Daneben eine Fotografie von August III., 1932. 1933, 1934. Immer wieder ernste Gesichter, immer wieder lachende Gesichter. Erst in Schwarz-Weiß, später in Farbe. Halbglatzen, Seitenscheitel, Pomade, Vollbart, frisch rasiert, jung, alt, mittelalt. Triumphierende Blicke, schüchterne Blicke, traurige Blicke, fröhliche Blicke, Viktoria lächelte – und plötzlich sah sie
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