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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne
Autoren: John Harvey
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kaum aufgesehen, lediglich seine Zustimmung durch ein Nicken ausgedrückt, als hätte er diese Entwicklung schon seit Langem erwartet; ihre Mutter hatte sich in ihrem Sessel vorgebeugt und Ruths Hände umschlossen: »Wenn du dir sicher bist, wirklich sicher   …«
    Die Freunde bei der Arbeit, die ihr so nahestanden, dass sie es ihnen erzählte, waren auch nicht überraschter gewesen als ihr Vater; sie meinten, es sei genau das, was sie brauche, jemand, der ihr helfen würde, ihr Leben neu in den Blick zu nehmen. Selbst die wenigen Freunde, die sie und Simon gemeinsam hatten, sagten überwiegend, sie treffe die richtige Entscheidung, als sie die Neuigkeit hörten.
    Als sie am Ende den Mut aufbrachte, auch Simon zu erzählen, dass sie jemand anderen kennengelernt hatte, war sogar er vernünftiger gewesen, als sie eigentlich erwarten durfte. Nicht unmittelbar natürlich, nicht sofort, aber sobald er die anfängliche Überraschung überwunden hatte.
    Sie hatten sich in einem Café getroffen, nicht weit vom Büro der Stadtverwaltung entfernt, wo Simon arbeitete. Ruth hatte ihn erst zwei Tage zuvor angerufen: Sie würde nach London kommen, um ein paar Einkäufe zu machen, vielleicht könnten sie sich auf einen Kaffee oder so treffen? Sie hatte es so beiläufig klingen lassen wie möglich.
    »Natürlich«, hatte er gesagt. »Passt es dir am Nachmittag? Sagen wir um drei? Viertel nach drei? Ich habe eigentlich einen Termin, aber den kann ich verschieben.«
    Und als sie gefragt hatte, ob er sicher sei, weil sie seinen Tag nicht durcheinanderbringen wolle   – in Wirklichkeit, weil sie kalte Füße bekommen hatte   –, lachte er sie aus.
    »Hör zu, Ruthie, ich hab immer Zeit für dich, das weißt du doch. Außerdem ist es lange her. Wenn ich dich nicht bald sehe, vergesse ich, wie du aussiehst.«
    Ruthie: Wie sie es hasste, wenn er sie so nannte.
    Auf den ersten Blick hatte Simon sich kaum verändert. Immer noch gepflegt in seinem leichten grauen Anzug. Aber er war dünn, bemerkte sie, dünner als früher, seine Wangenknochen traten stärker hervor, und er hatte Sorgenfalten um die Augen.
    Wie alt war er jetzt? Zweiundvierzig? Dreiundvierzig? Als sie an diesem Morgen in den Spiegel geblickt hatte, hatte sie eine Frau gesehen, die bei günstigem Licht gerade noch für fünfundvierzig durchgehen konnte. Sie war achtunddreißig.
    »Ich hab dich warten lassen. Tut mir leid«, sagte Simon.
    Ruth lächelte kurz, um zu zeigen, dass alles in Ordnung war.
    Sie hatte sich ein wenig unwohl gefühlt, als sie in dem lebhaften Café saß, umgeben von Leuten, die größtenteils jünger waren als sie selbst, dazu lässiger und modischer gekleidet. Männer und Frauen, die geschäftig ihre Laptops benutzten oder angeregte Unterhaltungen in mehreren Sprachen führten, deren Stimmen sich über das periodische Schrillen der Kaffeemaschine und den rhythmischen Ethnopop erhoben, der aus den Lautsprechern kam.
    »Noch einen Kaffee?«
    »Nein, danke. Ich möchte nichts.«
    Er lächelte und ging zur Theke, von der er ein paar Minuten später mit einem kleinen Cappuccino zurückkehrte.
    »Inzwischen am Nachmittag immer koffeinfrei, fürchte ich. Sonst bin ich zu aufgedreht und schmeiße Sachen durchs Büro.«
    »Das bezweifle ich.«
    »Du würdest dich wundern.«
    »Meinst du?«, sagte Ruth.
    Als sie erfahren hatten, was ihrer Tochter passiert war, warSimon natürlich wütend auf die Leute gewesen, denen er die Schuld gab, aber fast nie auf Ruth. Und später, als sie immer noch versuchten, sich mit dem Ereignis abzufinden, hatte er sich verkrochen und still in einer Ecke geweint, als wäre sein Schmerz etwas, das nicht geteilt werden konnte. Echt und unmittelbar und ganz allein seiner.
    »Also«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee, »worum geht es?«
    »Um nichts Besonderes, wie schon gesagt. Ich bin nur hergekommen und   …«
    »Ruth, du lebst am Stadtrand von Ely, nicht am Ende der Welt. In den letzten achtzehn Monaten musst du ein halbes Dutzend Mal in London gewesen sein, wenn nicht öfter. Wenn du mich hättest sehen wollen, um ein bisschen zu reden und herauszufinden, wie es mir geht, wäre das überhaupt keine Schwierigkeit gewesen.«
    »Simon   …«
    »Nein, das macht nichts. Ist in Ordnung. Du wolltest nicht, dass wir Freunde bleiben. Und ich habe das respektiert. Ich habe das verstanden. Eine klare Trennung. So viel leichter. Zumindest für dich.« Er schnaubte leise durch die Nase. »Wir gehen eben auf verschiedene Weise mit
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