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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne
Autoren: John Harvey
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    Habe deinen Ratschlag befolgt   – den Rat, den du mir vor langer Zeit gegeben hast. Habe hier verkauft und mich selbständig gemacht. Wünsch mir Glück. Wenn du je jemanden brauchst, der deine Steuererklärung überprüft   …
     
    Es gab keine Telefonnummer, keine Adresse.
    Seither hatte Ruth nichts von ihm gehört.
     
    Mit Beatrice gab es keine der Schwierigkeiten, die sie mit Heather erlebt hatte. Von dem Augenblick an, in dem ihr Mund die Brust fand und mit überraschender Kraft saugte, war das Stillen kein Problem, genauso wenig wie später das Abstillen und die Umstellung auf die Flasche. Beatrice nahm zu, sie wuchs, glücklich folgten ihre Augen Ruth durch den Raum.
    Sie war ein wunderbares Baby, ein liebevolles Kind, und wenn Ruth daran dachte, wie es mit ihrer Erstgeborenen gewesen war, wurden ihre Schuldgefühle noch größer.
    Natürlich verbarg sie ihre Gefühle vor Beatrice und überkompensierte sie durch Liebe und Zuwendung. So gut wie möglich verbarg sie sie auch vor Andrew, obwohl ihr das nicht immer gelang.
    »Was ist das?«, fragte er eines Abends, als Beatrice fünf Jahre alt war, und hielt den Umschlag vorsichtig von sich weg, als könnte er sich daran verbrennen.
    »Das weißt du.«
    »Hm?«
    »Du weißt, was das ist. Ganz genau.«
    Wie ein griesgrämiger Zauberer drehte er den Umschlag zwischen Daumen und Finger um und schüttelte den Inhalt heraus. Die Ansichtskarte mit der grünen Landkarte von Cornwall flatterte auf den Tisch, an dem Ruth saß, und landete mit dem Bild nach unten.
    Bald. Bis bald.
    »Ich dachte   …«, sagte er.
    »Was hast du gedacht?«
    »Ich habe nur gedacht, nach so langer Zeit   …«
    Ruth lachte, ein sarkastisches, humorloses Lachen. »Wie lange ist es denn her, Andrew? Weißt du das überhaupt?«
    »Komm schon, Ruth, darum geht es doch gar nicht. Die Zeit, sie ist   …«
    »Natürlich geht es darum. Willst du wissen, wie viele Jahre? Wie viele Monate? Wie viele Tage?«
    »Ruth, sieh mal   …«
    »Nein, sieh du mal. Sieh dir das an.« Sie schrie jetzt, war außer sich. »Diese verdammt blöde Karte mit den Kühen und Kathedralen und Fischerbooten und ihrer Schrift   … sieh mal, das ist ihre Schrift hier, lies es, lies es einfach selbst.« Sie wedelte mit der Karte vor seinem Gesicht herum, stieß damit in seine Richtung, bis er ausweichen musste. »Bis bald, das steht da. Bis bald. Und du hast geglaubt, ich würde es vergessen. Vergessen. Wegen Beatrice, deinetwegen, wegen meines verdammt guten Lebens hast du geglaubt, es würde einfach zu einem   – was?   – einem schlechten Traum? Zu etwas, das jemand anderem passiert ist? Und du glaubst, wenn ich aufhöre,sie anzusehen, diese Karte, wenn ich sie nie aus dem Umschlag, nie aus der Schublade nehme, würde alles anders werden und ich würde schneller vergessen?«
    Andrew stand da, getroffen von der Macht ihrer Wut, die Augen auf den Boden geheftet. Ruth wurde nie dermaßen wütend, fluchte fast nie.
    »Hier.« Sie stieß die Karte wieder in seine Richtung. »Nimm sie. Nur zu, nimm sie schon. Zerreiß sie. Wenn du denkst, das macht einen Unterschied. Wenn du denkst, dass mich der Anblick dieser Karte an sie denken lässt. Mach schon. Reiß sie in kleine Stücke. Worauf wartest du?«
    Sie streckte ihm die Karte ganz nah vors Gesicht, sodass er kaum eine andere Wahl hatte, als sie ihr aus der Hand zu nehmen.
    »Nur zu«, sagte sie. »Zerreiß sie.«
    Ohne sie anzusehen, ließ er die Karte durch die Finger gleiten und zu Boden fallen, dann drehte er sich um und ging weg. Ruth legte die Postkarte in die Schublade zurück, nahm sie von Zeit zu Zeit heraus und weder sie noch Andrew erwähnten den Vorfall je wieder.
    Aber nach einem besonders anstrengenden Tag oder wenn sie ein Glas Wein mehr als üblich getrunken hatte, gab es trotzdem Gelegenheiten, bei denen sie ihren Kopf an seine Brust legte, weil sie über Heather reden und ihm erklären wollte, was sie fühlte. Andrew gereichte es zur Ehre, dass er dann einen Arm um sie legte und zuhörte und sie auf den Kopf küsste, als würde er verstehen.
    Nur wenn er einen außergewöhnlich schwierigen Tag in der Schule hinter sich hatte   – eine überlange Sitzung mit der Stadtverwaltung, eine Debatte über zusätzliche Mittel   –, fühlte sie, wie er sich verspannte. Sie blieben stumm auf dem Sofa sitzen, fühlten sich unbehaglich und ihre Muskeln verkrampften sich, bis einer von ihnen etwas über die Uhrzeitmurmelte und meinte, dass sie
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