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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne
Autoren: John Harvey
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solchen Sachen um.«
    Oh Gott, dachte Ruth. Sie rührte mit dem Löffel in ihrer leeren Tasse herum. »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte sie mit so leiser Stimme, dass Simon sich vorbeugen musste. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er sie nicht gehört oder verstanden hatte.
    »Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte sie noch einmal, dieses Mal zu laut, sodass die junge Frau, die neben ihnen saß, von ihrem Buch aufsah und lächelte.
    Simon brauchte ein paar Sekunden, bevor er antworten konnte.
    »Du meinst im Sinne von   … Ja, natürlich meinst du das. Und ist es was Ernstes?«
    »Ja.«
    »Also   … also, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin überrascht, das ist alles. Ich habe gedacht, du wolltest mir vielleicht etwas über deine Familie mitteilen. Ich weiß ja, dass es deinem Vater nicht so gut geht. Ich habe gedacht, du würdest vielleicht nach Cumbria ziehen, um näher bei deinen Eltern zu sein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber das habe ich nicht erwartet.«
    »Nein.« Sie lachte verlegen. »Der Gedanke an junge Liebe ist im Zusammenhang mit mir ziemlich abwegig.«
    »Das habe ich nicht gemeint.«
    »Simon   …«
    »Ich dachte, du wolltest allein sein. Ich dachte, darum wäre es gegangen.« Sie bemerkte, dass seine Fingernägel fast bis auf das Nagelbett abgekaut waren.
    »So war es auch«, sagte sie. »Das musst du mir glauben. Dass so etwas passiert, ist das Letzte, was ich erwartet hätte.«
    »Fast.«
    »Wie bitte?«
    »Fast das Letzte. Nicht so unerwartet wie   …« Ein Schatten huschte über seine Augen.
    »Simon, es tut mir leid, ich   …«
    »Nein, nein. Herzlichen Glückwunsch. Wirklich. Ich meine es ehrlich.«
    »Danke.«
    »Wo hast du ihn eigentlich gefunden, deinen Märchenprinzen? Deinen Ritter in glänzender Rüstung?«
    »Mach dich nicht lustig.«
    »Mach ich nicht.«
    »Vielleicht hätte ich es dir gar nicht erzählen sollen. Ichweiß auch nicht genau, warum ich es getan habe. Es schien einfach wichtig zu sein, das ist alles.«
    »Ja, natürlich. Ich verstehe. Glaube ich wenigstens. Und es freut mich, dass du mich informieren wolltest. Ich freue mich auch für dich. Ganz ehrlich.« Er presste sich ein Lächeln ab, beugte sich über den Tisch und zielte einen unbeholfenen Kuss auf ihre Wange.
    »Ich muss jetzt gehen«, sagte Ruth. Sie war nervös und fühlte sich unbehaglich, merkte, dass die junge Frau neben ihnen sie mit unverhohlener Neugier anstarrte, und wünschte, sie wäre nie gekommen.
    Draußen standen sie für einen Augenblick Seite an Seite auf dem Bürgersteig. Seine Haut war merkwürdig blass, fand sie, als wäre er in letzter Zeit nicht viel an die frische Luft gekommen.
    »Simon«, sagte sie, »geht es dir gut?«
    »Mir? Ja, natürlich. Mit mir ist alles in Ordnung, was hast du denn gedacht?«
    Und schon war er auf dem Weg, schlängelte sich durch den Verkehr, der sich in beiden Richtungen in einer langsamen unendlichen Reihe durch die Upper Street quälte.
     
    Sie hatte Andrew durch eine Freundin kennengelernt. Catriona war eine fröhliche Fünfundfünfzigjährige, mit der sie samstag- und donnerstagnachmittags in der Buchhandlung von Oxfam arbeitete. Ruth war noch einmal an die Uni zurückgekehrt, um Informations- und Bibliotheksmanagement zu studieren, und arbeitete außerdem drei Tage die Woche in einem kleinen Kunstgewerbeladen in der Nähe der Kathedrale. Die ehrenamtliche Tätigkeit bei Oxfam half ihr, ihre Zeit vollends auszufüllen.
    Catriona gelang es immer wieder, Ruth dazu zu überreden, mit ihr den neuesten ausländischen Film anzusehenoder sie in eine neue Ausstellung zu begleiten. Ruth hatte einmal verraten, dass sie früher selbst gemalt hatte, deshalb schrieb Catriona ihr ein größeres Wissen zu und bat Ruth ständig, ihr das Unerklärliche zu erklären. Sie beschwatzte Ruth sogar, mit ihr und ihrem Mann Lyle zu den Treffen des Ely Folk Clubs zu kommen, die gelegentlich im »Lamb« stattfanden, wo Lyle nach zu viel Bier den Refrain immer viel zu laut mitsang. Und dann waren da natürlich die Fahrten auf dem Great Ouse: Lyle war genauso stolz auf die Zugkraft des 80-P S-Dieselmotors seines erlesenen alten Boots wie auf die Spanten aus Eiche, die Planken aus Teak und die traditionellen Fender aus Kokosseil.
    Sie hatten sich Ruths Geschichte angehört, alle beide, und gutherzig, wie sie waren, beschlossen sie, dass Ruth nicht still vor sich hin welken dürfe. Du musst ausgehen und Leute kennenlernen, neue Freunde finden, ein neues Leben
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