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Schrei Aus Der Ferne

Schrei Aus Der Ferne

Titel: Schrei Aus Der Ferne
Autoren: John Harvey
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Untersuchungsrichter getäuscht hat? Achtzehn Monate, wenn er Glück hat, zwei Jahre, wenn nicht. In beiden Fällen wird er den größten Teil davon wahrscheinlich in Untersuchungshaft verbüßen.«
    »Der arme Kerl.«
    »Tja«, sagte Helen, »wenigstens ist er am Leben.«
    Sie folgte Efford die Stufen hinunter, und als er davoneilte, überquerte sie die Straße und nahm die U-Bahn . Wenn sie Glück hatte, würde sie den nächsten Zug nach Cambridge noch rechtzeitig erreichen.
     
    Sie waren auf dem üblichen Rastplatz, der Imbisswagen hatte um diese Zeit längst geschlossen, die beinahe ständig auftauchenden Autoscheinwerfer strichen über ihre Gesichter und ließen sie aufleuchten.
    »Wir müssen   …«, begann Helen.
    »Ich weiß. Damit aufhören, uns hier zu treffen.«
    »Die Leute denken sonst, wir sind auf Abwegen.«
    »Wir doch nicht.«
    Helens Feuerzeug flackerte auf.
    »Glaubst du, der Junge wird angeklagt?«
    »Zwangsläufig. Er kommt nicht einfach so davon.«
    »Meinst du, er hat die Wahrheit gesagt? Ist es so passiert, wie er es erzählt hat?«
    »Ja, ich denke schon. Aber das ist nicht meine Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft könnte es anders sehen. Hätte er sie nicht verfolgt, wäre sie vielleicht nicht gefallen und hätte sich nicht den Kopf gestoßen.«
    »Schwer zu beweisen.«
    »Ich weiß.«
    »Ich sollte jetzt nach Hause.«
    »Es gibt noch was.« Ihr Gesicht leuchtete plötzlich in einem orangegelben Schein auf, als jemand mit Fernlicht an ihnen vorbeifuhr. »Dieser Antrag auf Versetzung, über den ich schon seit Ewigkeiten rede   – ich hab ihn jetzt gestellt.«
    »Cornwall?«
    Helen lachte. »Die Metropolitan Police.«
    »Welche Abteilung?«
    »SO7.   Schweres und Organisiertes Verbrechen.«
    »Eine Beförderung?«
    »Nicht unmittelbar.«
    Will drehte den Kopf der Straße zu, wo der schnelle Strom des Verkehrs beinahe ununterbrochen dahinfloss. »Größeres Gebiet, mehr Möglichkeiten. Du wirst es gut machen.«
    »Ist das alles, was du zu sagen hast?«
    »Was erwartest du? Soll ich in Tränen ausbrechen? Dich anbetteln zu bleiben?«
    »Etwas in der Art.«
    »Schwachsinn!«
    »Das ist mein Ausdruck, nicht deiner.«
    »Dann wird es sie nicht mehr geben, diese Stelldichein am Rande der A10.«
    »Warum, glaubst du, gehe ich?«
    Zu beider Überraschung küsste Will sie auf die Stirn. Nur einmal, ganz kurz, dann trat er schnell zur Seite. »Im Ernst, du wirst es gut machen.«
    »Danke.«
    »Jetzt   …« Er blickte auf seinen Wagen.
    »Ich weiß, die Familie wartet.«
    Wie es zur Gewohnheit geworden war, eine Gewohnheit, die sie würde ablegen müssen, zündete Helen noch eine Zigarette an und sah zu, wie er wegfuhr.

76
     
    Auf ihrer letzten Fahrt nach Cambridge hatte Ruth eine Tischstaffelei und einen Satz Leinwände gekauft. Sie hatte auch ihre Wasserfarben aus der Versenkung geholt. Jetzt saß sie am Erkerfenster, machte sich das Licht zunutze und versuchte sich, so gut es ging, an einer eigenen Version von Matisses ›Anemonen und Chinesische Vase‹. Sie hatte eine von ihren Vasen auf den Tisch gestellt, die dem Original recht ähnlich und ebenfalls rund war. Auch ein Kissen, obwohl die Farben anders waren. Und natürlich war das Bild von Matisse in Öl gemalt. Es ist so schön, dachte sie. Sie konnte nicht hoffen, in irgendeiner Weise daran heranzureichen. Aber das konnten ohnehin nur wenige.
    Sie legte ihren Pinsel für einen Augenblick zur Seite, um der Musik zuzuhören, die sie aufgelegt hatte, eine der ›Goldberg-Variationen‹: Nr.   25, das Adagio. Der Anschlag des Pianisten war so leicht, das Tempo so langsam, dass es schien, als könnte die Musik ins Stocken geraten und aufhören, über eine unvorhergesehene und unergründliche Klippe fallen, aber natürlich tat sie das nicht.
    In der kleinen Stille zwischen diesem Stück und dem nächsten, und bevor sie ihr Malen wieder aufnehmen konnte, glaubte Ruth, ein Geräusch zu hören. Das Geräusch einer Tür, die sich im Stockwerk über ihr öffnete oder schloss.
    Es war so lange her.
    Ruhig und ohne Eile ging sie zur Treppe.
    Die Tür zu dem kleineren Schlafzimmer stand einen Spalt offen.
    Der Klang des Klaviers kam leise von unten herauf.
    Ruth öffnete die Tür ganz und trat ein. Das Mädchen stand vor dem Spiegel, etwas gebeugt, mit dem Rücken zu Ruth, und betrachtete sein Gesicht.
    Ruth stockte der Atem.
    »Beatrice?«, sagte sie schließlich.
    Ganz langsam, als würde die Zeit stehen bleiben, drehte sich das Mädchen zu
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