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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen
Autoren: Anja Abens
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faszinierend, und jetzt ist es Routine, das einzig Neue, das noch kommen würde, sind die Trauergespräche, aber vor denen fürchte ich mich eher. Ich habe mir überlegt, wenn schon Schule, dann lieber die normale Schule, nach dem Abitur kann ich wenigstens studieren. In letzter Zeit will ich so gern studieren. Ich brauche Informationen für meinen Kopf. Da ist gar nichts mehr drin, ich habe nichts zum Denken, ich habe nichts, was ich begreifen oder neu lernen muss. Das Bestattungsunternehmen bietet keine Herausforderungen mehr, das ist unbefriedigend. Ich will mehr Wissen haben und Texte lesen und Zusammenhänge verstehen lernen. Ich will studieren. Definitiv. Dafür würde ich auch die drei Jahre in die Schule gehen. Definitiv lieber, als drei Jahre für einen im Endeffekt unbefriedigenden Beruf. Ich weiß nur nicht, wie ich das meinen Eltern beibringen soll. Erst mache ich ein Riesentheater, weil ich die Schule nicht aushalte, und jetzt will wieder hin?
    Wie enttäuscht wird wohl Herr Kuckensiel sein? Ich wurde jeden Monat gut bezahlt und habe eine Uhr als Weihnachtsgeschenk bekommen. Er hofft bestimmt, dass ich bleibe … aber wenn ich mir vorstelle, ich muss drei Jahre lang das lernen, was ich nach diesen Wochen schon fast alles kann, o nein.
    Meikes Tagebuch
    Realität
    Zwischen kalten Wänden, in Hallen aus Stein,
    zwingst du mich nun bei dir zu sein.
    Gefangen durch Ketten in deinen Mauern,
    bringst du mich dazu, auf dem Boden zu kauern.
    Du nimmst mir die Kraft, die Fantasie, den Verstand,
    hast mich in deinen Kerker verbannt,
    um mich zu foltern, gefügig zu machen,
    bist jederzeit da, mich zu bewachen.
    Eine Flucht ist unmöglich, aussichtslos,
    du bist immer da. Deine Macht ist zu groß,
    reicht bis in meine Gedanken hinein,
    ich kann nirgends mehr alleine sein.
    Ich flehe, ich bettle für mein Leben,
    denn dieses kannst nur du mir geben,
    doch du denkst nicht daran, es mir leichter zu machen,
    ich höre dich grölen, ich höre dich lachen.
    Ich bin so naiv, an deine Gnade zu denken,
    daran, du könnest mir die Freiheit schenken.
    Du wirst mich nur zur Verzweiflung treiben,
    dann wird mir nur eine Möglichkeit bleiben,
    der einzige Pfad, nach draußen ins Glück,
    doch dann gibt es keinen Weg mehr zurück.
    Soll ich ihn gehen, um dir zu entflieh’n?
    Oder wirst du mich selbst aus dem Tod zurückzieh’n?
    Ist deine Macht so unbegrenzt?
    Dass du selbst den Tod nicht als Grenze kennst?
    Doch für meine Freiheit würde ich sogar das noch versuchen,
    bin ich dann frei, werd ich dich verfluchen,
    denn noch kann ich sagen mit gutem Gewissen,
    Realität, ich werde dich nicht vermissen!
    Anja
    Es ist gut. Alles ist gut mit Meike, da bin ich mir sicher. Sie ist wesentlich lockerer im Gespräch. Das verdanken wir den Kuckensiels. Es war so wichtig für Meike, Gesprächspartner außerhalb der Familie zu finden. Dinge von ganz anderen Seiten betrachten zu können. Und die Erfahrung zu machen, etwas zu schaffen. Sie hat Erfolgserlebnisse und bekommt über die Arbeit Bestätigung.
    Die Kuckensiels jedenfalls sind Bestatter mit Leib und Seele und haben den dazugehörigen passenden schwarzen Humor. Sie sind wie sie sind und wollen nichts anderes sein, und das gefällt Meike. Da sie ein Familienbetrieb sind und keinen Aufenthaltsraum haben oder Ähnliches, ist Meike auch zum Essen bei ihnen zu Hause eingeladen. Erst wollte Meike das natürlich nicht, dann ist sie der Einladung hin und wieder gefolgt, und sie findet das Familienleben dort wohl sehr amüsant. Na, Gott sei Dank. Hätte ja auch wieder etwas anderes sein können hinter den Fassaden. Nur, dass Meikes fröhliche Berichterstattungen seltener werden. Ich würde mich freuen, wenn der äußere Anschein die Realität wäre. Es gibt genug anderes um mich herum, das mich fordert, aber irgendwie bleibe ich in Habachtstellung Meike gegenüber.
    Meike
    Ich kann nicht mehr. Nicht, weil mir das alles so unglaublich viel wird, sondern eher, weil mir das alles zu wenig wird. Ich weiß nicht, wo ich mit mir hin soll. Es nervt, dass ich nichts zu tun habe, dass mein Hirn nichts hat, womit es sich beschäftigen kann, und dass ich scheinbar nicht in der Lage bin, in meiner Freizeit irgendwas Kreatives zu tun, solange ich nicht die entsprechenden Reize von außen bekomme. Es ist einfach bescheuert, das kann doch nicht wahr sein, dass es jetzt wieder losgeht. Ich hole meine Schmuckdose von der Fensterbank. Die Rasierklingen sind immer noch da. Ich hatte meiner Mutter gesagt, ich
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