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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen
Autoren: Anja Abens
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halten. Karl und ich äußern uns nicht zu dem Thema. Warum auch Öl ins Feuer gießen? Meike ist einfach nicht davon zu überzeugen, dass man Fehler machen darf. Dabei ist sie eine der besten auf dem Kunstrad und patzt nur selten. Ich versuche, mich auf das Fahren zu konzentrieren.
    Wir sind unterwegs zum dritten Pokalfahren der Saison. Diesmal nach Duisburg. Insgesamt finden sechs Turniere statt, am Ende steht dann der Landespokalsieger jeder Altersklasse fest, die besten machen später bei den Wettkämpfen um den Bundespokal mit. Bei jedem der Turniere ist ein anderer Verein Ausrichter der Veranstaltung. Das bedeutet, die Eltern der Aktiven backen und kochen und sorgen für das leibliche Wohl der Gäste. Heute sind wir Gäste und können gemütlich zuschauen, herumspazieren und Kaffee trinken. Schon die ganze Woche habe ich mich auf unseren Familienausflug gefreut. Sonst machen wir nur noch selten etwas zu viert. Aber zu Meikes Turnieren kommt selbst Marvin mit, der sich seit einiger Zeit von uns abschottet. Er kennt die Leute aus dem Verein, denn die Jugendfreizeiten für die Sportler sind auch für die Geschwisterkinder offen, und bei Festen feiern die ganzen Familien zusammen. Außerdem sind Marvin und Karl seit letztem Sommer in der Radballabteilung des Sportclubs aktiv. Ich hoffe, dass Marvin sich Karl anvertraut, wenn ihn etwas bedrückt, denn mit mir scheint er zurzeit seine Probleme zu haben. Genau wie Meike.
    Aber war das mit Jonas und Anna, meinen Kindern aus erster Ehe, nicht ähnlich? Ist das nicht ganz normal in der Pubertät? Marvin ist fast fünfzehn und Meike zwölf. Das sind nun mal die schwierigen Jahre … Die Großen, Jonas und Anna, sind elf und acht Jahre älter als Meike und beide bereits ausgezogen. Noch vor wenigen Jahren waren wir eine richtige Großfamilie. Wie lange hat es früher bei einem Ausflug gedauert, bis alle Kinder und Sachen im Wagen verstaut waren und wir endlich abfahren konnten … Mit Kindern leben, diese Lebensvorstellung hat Karl und mich von Anfang an verbunden.
    Wie glücklich waren Karl, Jonas, Anna und ich, als Meike, unser Nesthäkchen, geboren wurde. Für Jonas war es das reine Wunder, er hatte gerade Sexualkunde in Biologie gehabt, und mit der Entstehung des neuen Lebens im Schulunterricht kam zeitgleich Meike zur Welt. Zu Hause wollte jeder zuerst an ihrem Bettchen sein, wenn sie brüllte. Am siegreichsten ging aus diesem Wettstreit meist Anna hervor, worüber Jonas oft richtig ärgerlich war. »Immer nimmt Anna Meike!«, schimpfte er sichtlich entrüstet, wenn Anna das kleine Schwesterchen stolz auf dem Arm herumtrug. In den wenigen ruhigen Momenten wunderte ich mich wie schon damals bei meinen beiden Großen, dass da plötzlich ein neues Leben ist. Man sitzt in seinem Sessel, und ganz unvermittelt fällt einem ein, dieser neue kleine Mensch gehört zu einem. Dieses glückliche Gefühl bringt einen dazu, an die Wiege zu treten, sanft die zarte, helle Babyhaut zu berühren und sich zu versichern, dass auch alles in Ordnung ist. Meike war von Anfang an ein neugieriges und aufgewecktes Baby, das die meisten Entwicklungsschritte ein wenig schneller als die anderen Kinder machte. Natürlich gab es wieder die durchwachten Nächte, und die Bewegungsfreiheit, die wir sechs Jahre mit Jonas und Anna genossen hatten, wurde mit einem Baby naturgemäß etwas eingeschränkt, aber rückblickend kann ich uns nur als eine glückliche Familie bezeichnen. Als dann vor neun Jahren Marvin zu uns kam, dachte ich, dieses Glück würde perfekt, wenn wir es mit einem Kind teilen dürften, das sich vor allem das wünschte: eine Familie.
    Meike
    Warum versteht mich denn niemand? Merkt denn gar keiner, dass ich dem Druck beim Kunstradfahren nicht mehr standhalten kann? Stattdessen sehen mich alle erwartungsvoll an. Zu allem Überfluss habe ich gestern auch noch meine Tage bekommen, zum dritten Mal überhaupt. Dabei war ich im ersten Moment froh, andere Mädchen hatten ihre Menstruation längst. Aber es war auch ein Schock. Ich war so überrascht, dass ich nach meiner Mutter gerufen habe. Beim Anblick der blutigen Unterhose hat sie kurz das Gesicht verzogen, mich dann aber beruhigt. Ein verschmutztes Höschen ist kein schöner Anblick, klar. Aber ihr Blick hat mich gestört. Selbst wenn sie nachher gesagt hat, dass es völlig normal sei, so hat sie doch zuerst das Gesicht verzogen. Was kann ich dafür, dass ich anfange da unten zu bluten. Ich kann nichts für meinen beschissenen Körper.
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