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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen
Autoren: Anja Abens
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Telefon erzählt: Marvins körperliches Unwohlsein dem Jugendamt gegenüber, denn Jugendamt bedeutete für Marvin fort von der Mutter und ins Kinderheim, fort von seiner Oma, die ihn aus dem Heim herausholte und sich später überfordert fühlte, also immer aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden. Brüche. Ich hatte Frau Bast auch erzählt, dass alle Angebote von unserer Seite, seine Mutter zu suchen, von Marvin abgewehrt worden waren. Gut, dachten wir, das hat dann Zeit, bis dieser Wunsch von ihm ausgeht. Und was fragt ihn diese Frau bei dem ersten Gespräch unvermittelt: »Möchtest du deine Mutter sehen?«
    Ich sehe Marvin jetzt noch vor mir, abwechselnd rot und blass werdend, bis er zögernd antwortet: »Jjjja, vielleicht.« Dabei kannte Frau Bast den Aufenthaltsort von Marvins Mutter zu diesem Zeitpunkt nicht einmal.
    Seit diesem Gespräch im Herbst geht alles schief. Vor dem Treffen mit Frau Bast hatte Marvin keinen einzigen Fünfer in seinem Versetzungszeugnis, danach, auf dem Halbjahreszeugnis, waren es neun! Neun Fünfer. In seinem Zimmer finde ich seitdem genau wie früher, als er gerade zu uns gekommen war, ständig kaputte Sachen. Zerbrochene Bleistifte und Lineale, zerfetzte Hefte, zerstörtes Spielzeug. Und er vernachlässigt seine Ratte Nelly, der er sonst viel Zärtlichkeit entgegenbrachte. Zu allem, was wir sagen, sagt er zwar ja, aber es scheint nichts wirklich zu ihm durchzudringen. Vor dem zweiten Hilfeplangespräch schreibe ich deshalb einen Brief an das Jugendamt zu Händen Frau Bast. Ich schildere die Situation und weise vorsichtig auf den Zusammenhang hin, den ich zwischen dem ersten Gespräch und Marvins Talfahrt sehe. Es kommt keine Antwort auf den Brief. Beim nächsten Termin im Amt meint Frau Bast ironisch zu ihren Kollegen: »Frau Abens ist ja der Ansicht, wir wären schuld an Marvins schlechten Schulleistungen. Ich denke, die Realschule war von Anfang an eine Überforderung für ihn. Was meinst du, Marvin?«
    Marvin zuckt die Achseln, und ich bin sprachlos.
    Meike
    Diese Frau Bast hat sie doch nicht mehr alle. Die tut so, als wären wir gar nicht da. Frau Lange hat immer mit uns allen gesprochen. Aber Frau Bast will nur mit Marvin sprechen. Mama, Anna und ich sitzen auf dem Balkon und warten, während Frau Bast und ihre Kollegin mit Marvin in seinem Zimmer sind. Was wollen die überhaupt von ihm? Mama meint, das sei in Ordnung, die wollten eben auch mal allein mit ihm sprechen. Na, dann hätte ich zu Carina gehen können. Oder möchte Frau Bast später noch mit uns sprechen? Nee, von wegen.
    »Wir sind jetzt fertig.« Marvin steht in der Balkontür. »Die wollen sich verabschieden.«
    Ich sehe, wie erstaunt Mama ist.
    »Sie wollen keinen Kaffee trinken?«, fragt sie.
    Marvin zuckt die Schultern. »Weiß nicht.«
    Mama steht auf und geht in die Wohnung. Marvin lässt sich auf die Bank fallen.
    »Was wollten die denn?«, fragt Anna.
    »Ach, wie’s mir so geht und so …« Marvin grinst schief, genauso wie immer, wenn er nicht wirklich weiß, was er sagen soll. »Weiß auch nicht, total überflüssig …«, murmelt er noch. Ich verstehe ihn kaum, ist mir jetzt aber auch egal, den Nachmittag kann man voll vergessen.
    Anja
    Ich kann nicht mehr. Herrn Sänger, Marvins Klassenlehrer, geht es ähnlich. Er steht kurz vor der Pensionierung und wirft das Handtuch. Mit Tränen in den Augen gesteht er: »Das hätte ich nicht gedacht, dass ich das vor dem Ruhestand noch erleben muss. Marvin ist der erste und einzige Schüler, bei dem ich aufgebe. Ich weiß nicht mehr weiter.« Mir ist übel. Herr Sänger ist einer der verständnisvollsten und hilfsbereitesten Lehrer, die mir in der Schullaufbahn unserer vier Kinder begegnet sind.
    Was ist mit Marvin bloß los? Nichts geht mehr, weder in der Schule noch zu Hause. Vom Jugendamt ist keine Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil, Frau Bast ist generell für die Rückführung von Pflegekindern in ihre Kernfamilien, die Pflegefamilien interessieren sie nicht. Nur leider hat Marvins leibliche Mutter keinerlei Lebensperspektive und damit auch keine Möglichkeit, ihn bei sich aufzunehmen. Ich mache mir schreckliche Sorgen um die anderen Teile des völlig aus dem Gleichgewicht geratenen Familienmobiles. Ich wache schon mit Magendrücken auf, Karl hat Horror, nach der Arbeit nach Hause zu kommen, in der Erwartung immer neuer Katastrophenmeldungen. Die Großen verstehen die Situation nicht mehr, wenn sie uns besuchen, und Meike hält sich im Hintergrund,
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