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Schnittstellen

Schnittstellen

Titel: Schnittstellen
Autoren: Anja Abens
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hätte sie weggetan. Aber ich habe mir gedacht: Man kann ja nie wissen! – Und habe sie behalten. Besser so. Ich fühle mich leer und unbrauchbar, und mich stresst der Gedanke, dass ich, je länger ich beim Bestatter arbeite, weniger mit den Toten und mehr mit den Lebenden zu tun bekäme. Ich will keine Trauergespräche führen und mich darum sorgen müssen, wie ich auf andere wirke. Trauernde sind zwar nicht so kritisch, weil sie sich gerade um ihre eigenen Sachen Gedanken machen müssen, aber sie sind vielleicht auch besonders empfindlich und ich müsste genau darauf achten, wie ich auf sie zugehen kann. Ich will aber gar nicht auf andere zugehen. Und ich will nicht die ganze Zeit gelangweilt im Büro sitzen und Menschen, die ich nicht kenne, den Tod wünschen müssen, damit ich aus meiner Langeweile erlöst werde. Ich lasse mich in meinen Schreibtischstuhl fallen. Ich bin einfach zu nichts zu gebrauchen. Scheißrasierklingen. Sie sind unscharf und dreckig. Ich habe mir bei ihrem Anblick schon oft gewünscht, dass ich mir beim Ritzen irgendeine Blutvergiftung zuziehe und endlich verrecke. In diesem Moment kommen die Gedanken wieder. Ich nehme eine der Klingen und schneide mir in den Unterarm, ein paarmal, dann in den Oberarm, etwas tiefer, und das Blut tropft erst träge aus den Wunden, dann fließt es schnell wie immer. Und ich sehe dabei zu. Aber ich empfinde keine Genugtuung mehr dabei. Ich bin wahrscheinlich schon so leer und erschöpft und müde, dass es nicht einmal mehr etwas bringt, wenn ich mich selbst verletze. Aber will ich denn überhaupt etwas rausschreien wie sonst? Ich horche. Ich horche ganz tief in mich hinein. Nein! Ich will nichts loswerden, ich will etwas bekommen. Ich will irgendeine Nahrung für mein Hirn. Verdammter Mist. Ich packe die Rasierklingen zurück in die Schmuckdose und stelle sie wieder auf die Fensterbank.
    Anja
    Meikes Stimmung verschlechtert sich irgendwie. Sie ist oft wieder blass und steif und starr. Eigentlich hatte sie das beinahe ganz verloren, es macht mich unruhig, dass es wieder da ist. Hin und wieder beklagt sie sich ja, dass ihr flau wird bei den Trauerfeiern und dass sie nicht so lange stehen kann, aber ich glaube nicht, dass das wirklich das Problem ist. Solange sie sagt, es ist alles in Ordnung, will ich das nicht anzweifeln. Ich muss ihr einfach trauen, und jede schlechte Stimmung hinterfragen ist idiotisch. Ich habe auch mal schlechte Laune und weiß nicht, warum.
    Froh bin ich, dass wir im Familienkreis mit Meikes Schwierigkeiten offen umgehen. Als wir mit Karls Mutter mal im Krankenhauscafé sitzen, heftet sie ihren Blick auf Meikes Unterarm.
    »Meike ging es sehr schlecht, nicht wahr?«
    Ich nicke.
    Karls Mutter nickt ebenfalls. »Das habe ich gewusst. Und wie ist es jetzt?«
    »Besser, Oma«, antwortet Meike, und sie erzählt, wie gut es ihr getan hat, erst mal aus der Schule rauszukommen und in das Praktikum einzusteigen. Die Beschäftigung beim Bestatter wird von Karls Familie viel lockerer akzeptiert, kein Wunder bei er Berufstradition. Bei meinen Leuten merkte ich deutlich das Erstaunen, aber von Jonas Bemerkung »Die Kleidung passt immerhin schon« bis zum Kommentar meiner Mutter »Ein Bestatter in der Familie ist auch nicht das Schlechteste«, versuchen doch alle, dieser Entwicklung das Positive abzugewinnen. Sie freuen sich, dass Meike inzwischen offener geworden ist. Selbstverletzungen blenden meine Eltern aus. Wir sind zwar auch nicht in alle Einzelheiten gegangen, haben aber schon erklärt, wieso Meike letztes Jahr in der Klinik war und warum sie die Schule jetzt erst einmal verlässt. Aber ich habe den Eindruck, es kommen immer nur die positiven Botschaften an. Sie hat die mittlere Reife, jetzt macht sie erst mal eine Ausbildung … und nicht: Sie hat es nicht mehr ausgehalten und darum hat sie sich selbst Schaden zugefügt von Essstörungen bis Ritzen. Aber das finde ich nicht schlimm. Als Großeltern dürfen sie ruhig nur das Positive sehen, irgendwann muss es gut sein mit der Verantwortung.
    Schlimmer fand ich, dass sie damals meine Not nicht wahrgenommen haben, als ich jugendlich war. Wie lange habe ich gebraucht, dieses Gefühl wieder zu verlieren, dieses Gefühl, allein auf der Welt zu sein, nichts wert zu sein und alles für alle regeln zu müssen.
    Wie glücklich bin ich, dass ich mich inzwischen geborgen fühle. Mein Blick ruht auf einem Bild, einem Möbelstück, unserem Ausblick ins Grüne … und ich fühle Geborgenheit. Die Welt, die
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